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Der freie Wille und die Physik

24. August 2010 - 15:55 Uhr

Physiker und Chemiker haben kein Problem damit, physikalischen oder chemischen Prozessen das Prädikat „freiwillig“ zuzuschreiben. Psychologen und Neurophysiologen streiten dagegen sogar darüber, ob dieses Prädikat menschlichen Handlungen zuerkannt werden kann.

Hinter diesem Widerspruch sind einige Probleme verborgen, die meist nicht reflektiert werden, wenn die Formulierung „freier Wille“ benutzt wird.

Ein erstes Problem steckt hinter der „Wer-Frage“. Wer – welche Art von Entität - hat die Eigenschaft, die jeweils „freier Wille“ genannt wird? Bei Physikern und Chemikern sind dies Prozesse in isolierten thermodynamischen Systemen, d.h. thermodynamische Systeme, die weder Substanz noch Energie mit der Umgebung austauschen.

Solche Systeme befinden sich gewöhnlich im Zustand des thermodynamischen Gleichgewichts, d.h. in einem Zustand, in dem überhaupt nichts stattfindet, weder freiwillig noch unfreiwillig. Anders aber, wenn in einem isolierten thermodynamischen System ein Zustand des Ungleichgewichts besteht. Dann geht das System „von allein“/1/ („spontan“, „freiwillig“) in ein thermodynamisches Gleichgewicht über. Das ist ein Aspekt des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik.

Die Bedeutung des Wortes „freiwillig“ resultiert eben daraus, dass es Prozesse innerhalb eines isolierten Systems bezeichnet, auf die per definitionem keine äußeren Ursachen wirken. Dieser Umstand der fehlenden äußeren Ursache zwingt quasi zur Verwendung von Termini wie „freiwillig“, „von allein“ oder „spontan“. Er ist nur in isolierten thermodynamischen Systemen gegeben.

Nun werden Lebewesen seit Bertalanffy gewöhnlich als offene thermodynamische Systeme betrachtet. Das physikalische Konstrukt des offenen thermodynamischen Systems ist also auch das Erklärungsprinzip für Lebewesen, und für diese gilt, dass nichts ohne äußere Ursache geschieht. In offenen thermodynamischen Systemen geschieht nichts von allein, spontan, freiwillig.

Indem nun die Lebewesen diesem Erklärungsprinzip unterworfen werden, können ihnen allein aus Gründen der Logik Prädikate wie „von allein“ oder „freiwillig“ nicht mehr zugeschrieben. Der freie Wille wurde ihnen per definitionem genommen.

Wenn man den Lebewesen nun doch einen (freien, eigenen) Willen zuschreiben will, kann das angewendete Erklärungsprinzip für Lebewesen weder das Konstrukt des isolierten noch das des offenen thermodynamischen Systems sein. Lebewesen müssen mit einem prinzipiell anderen Prinzip als dem des thermodynamischen Systems erklärt werden.

Dieses andere Prinzip ist das Konstrukt des Subjekts. Subjekte haben per definitionem einen Willen. Subjekte sind im allgemeinen Sprachgebrauch (und dem vieler Philosophien) mit Eigenschaften wie Selbstbestimmtheit, Autonomie und eben dem freien Willen ausgestattet. Ohne diese Eigenschaften kann ein Individuum nicht Subjekt sein. Dieses Konstrukt wäre aber nur dann mit den Paradigmata der Physik verträglich, wenn das Subjekt physikalisch nicht mehr also offenes, sondern als isoliertes thermodynamisches System aufgefasst werden könnte.

Die Crux liegt also in der Beziehung der Subjekte zur Umwelt. Die Subjekte mĂĽssen Beziehungen zur Umwelt haben, diese dĂĽrfen aber nicht kausalistischer Natur sein. Die Umwelt darf nicht die Ursache des subjektiven Handelns sein, denn dieses muss selbstbestimmt, autonom sein.

Deshalb ist der Subjektbegriff kein Erklärungsprinzip der Biologie und nur selten der Psychologie. Diese Wissenschaften verstehen sich als Naturwissenschaften und als diese haben sie sich dem kausalistischen Paradigma unterworfen, das die Existenz selbstbestimmter Entitäten nur als isolierte thermodynamische Systeme zulässt.

Es ist also erforderlich, eine autonome, selbstbestimmte Konstellation mit einer solchen thermodynamischen Ausstattung zu konstruieren, die im Unterschied zum isolierten thermodynamischen System auch Beziehungen zur Umwelt zulässt. Da eine solche Konstellation weder ein isoliertes noch ein offenes thermodynamisches System sein kann, muss sie in einem neuen Begriff abgebildet werden. Um mit diesem Begriff einer selbstbestimmten thermodynamischen Konstellation umgehen zu können, ist ein Wort erforderlich. Ein solcher Begriff kann widerspruchsfrei im Wort „Subjekt“ ausgedrückt werden. Dazu muss aber das Subjekt als physikalische Kategorie definiert werden,

Wie gezeigt werden kann (Litsche 2004), ist ein solcher Begriff des Subjekts geeignet, Eigenschaften wie Autonomie, Selbstbestimmtheit, Wille u.a. als native Eigenschaften bestimmter thermodynamischer Konstellationen zu verstehen.

Ein zweites Problem ist die Frage danach, wodurch sich die Beziehungen von Subjekten zu ihrer Umwelt von den Beziehungen unterscheiden, die zwischen offenen Systemen und deren Umgebung bestehen.

System und Subjekt

Abbildung 1: Offenes thermodynamisches System und Subjekt (grün Zufluss und Abfluss, L Leistung, T Tätigkeit des Subjekts, E/S Energie/Substanz)

Ein offenes thermodynamisches System hat einen Zufluss und einen Abfluss und ist durch diese ist das thermodynamische Gefälle der Umgebung eingeordnet. Zufluss und Abfluss bestimmen die Leistung des Systems, alle Werte können gemessen, die Leistung kann aus Parametern der Umgebung berechnet werden. Durch die Gestaltung von Zufluss und Abfluss kann die Leistung manipuliert werden, das System ist fremdbestimmt.

Das Subjekt vollzieht aus seinem Willen heraus eine Tätigkeit, durch die es Substanz oder Energie auch gegen ein Gefälle der Umwelt aufnimmt. Die Parameter der Umwelt können gemessen, die Tätigkeit kann aber nicht aber aus Parametern der Umwelt berechnet (vorher gesagt) werden. Bei Veränderung der Parameter der Umwelt verändert das Subjekt seine Tätigkeit in selbstbestimmter Weise, es „reagiert“ autonom. Die Reaktionen können nur aus der Beobachtung des Subjekts vorhergesagt (berechnet) werden, nicht aus den Veränderungen der Umwelt.

Pflanzen können beispielsweise Wasser auch aus sehr trockenen Böden gegen ein osmotisches Gefälle jaaufnehmen und dieses gegen die Schwerkraft transportieren. Die Menge des Speichels von Pawlows Hund kann nicht aus der Masse der Klingel berechnet werden, die den Speichelfluss auslöst. Das unterscheidet aber thermodynamische Systeme vom Subjekt. Das Subjekt realisiert thermodynamische Prozesse, die gegen ein Gefälle verlaufen, „bergauf“.

Über Subjekte und offene thermodynamische Konstellationen kann man problemlos reden, solange man sie als „black box“ betrachtet und nicht nach der physikalischen Struktur des Subjekts fragt. In allen mir bekannten früheren Versuchen konnte das Problem der Organisation von physikalischen Prozessen gegen das Gefälle („bergauf“) nicht ohne die Hilfe von Kräften wie der Entelechie oder einer vis vitalis gelöst werden. Wo in der Psychologie Subjekte vorkommen, sind sie masselose Wesen und die Psychologie wird zur „Psychologie ohne Hirnforschung“ /3/.

Wie dem auch sei, um die Natur des (eigenen) Willens zu bestimmen ohne in Widersprüche mit den Paradigmata der Physik zu geraten, muss eine Konstellation von thermodynamischen bergab wirkenden Prozessen konstruiert werden, durch deren Zusammenwirken letztlich die bergauf wirkende Tätigkeit der Subjekte entsteht /6/. Ohne ein solches Konstrukt bleibt jede Definition des Willens außerhalb der Physik.

Diese physikalische Grundlage eines Subjektbegriffs fehlt den verbreiteten neurophysiologischen Erörterungen der Kategorie des (freien) Willens. Das führt entweder auf der einen Seite dazu, die Existenz eines freien Willens überhaupt zu bestreiten und deshalb folgerichtig auch dem Menschen den Willen und damit die Fähigkeit der Selbstbestimmtheit abzusprechen. Die andere Art des Herangehens führt dazu, die Kategorie des Willens außerhalb der Physik anzusiedeln und kommt folgerichtig in letzter Konsequenz zu einer Psyche ohne Gehirn. Die Diskussion um das Manifest führender deutscher Neurophysiologen/4/ und die Antwort einiger Psychologen /5/ in der Zeitschrift „Gehirn und Geist“ ist dafür hinreichend Beleg.

Andere Autoren suchen den Ausweg in quantenmechanischen Prozessen, die sich in der Tiefe neurophysiologischer Entitäten abspielen sollen und deren zufälliger Charakter die Grundlage für die Freiheit von Entscheidungen sein soll. Ohne dieser Argumentation in einzelnen nachzugehen lässt sich einwenden, dass diese Auffassung unreflektiert Autonomie, Selbstbestimmtheit, Willen usw. – kurz die Subjektivität allen Lebewesen abspricht, die nicht über ein Nervensystem verfügen, also nicht nur den Einzellern sondern beispielsweise auch allen höheren Pflanzen. Dieser Zuschreibung sollte zumindest nachvollziehbar begründet werden, denn sie betrifft letztlich die Einheit der biologischen Wissenschaft als der Wissenschaft von allen Lebewesen.

Björn Brembs gehört zu den wenigen Neurophysiologen, die die Frage nach einem freien Willen mittels ernsthafter Experimente untersuchen. Nun hat er angekündigt, dass er sich auch zum Begriff des freien Willens explizit äußern will. Ich bin gespannt, wie er diese Probleme angeht.

   

/1/ Kluge, Gerhard; Neugebauer, Gernot (1994): Grundlagen der Thermodynamik, Spektrum Akademischer Verlag GmbH, Heidelberg Berlin Oxford (S.68ff.)

/2/ Litsche, Georg A. (2004): Theoretische Anthropologie, Lehmanns Media-LOB, Berlin

/3/ Wissenschaft im Zwiespalt. Streitgespräch. Gehirn & Geist, Heft 7-8/2005, S. 64/4/ Das Manifest (2004) Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung. Gehirn & Geist, Heft 6/2004, S.31-37/5/ Psychologie im 21. Jahrhundert – eine Standortbestimmung. Gehirn & Geist, Heft 7-8/2005, S. 56-60/6/ Litsche, Georg (2010) Subjekt und System E-Journal der Website ICHS - International Cultural-historical Human Sciences S.66ff 

Weitere Beiträge zum Thema:

Meine Website „Subjekte“:

Subjekt - System - Information
Warum die Psychologie das Gehirn nicht findet
Warum die Neurophysiologie den Geist nicht findet

Mein Blog „Wille versus Kausalität“

Der tut nix, der will bloĂź spielen
Freier Wille
Das ErkenntnisbedĂĽrfnis und unsere Erkenntnis

 

15 Kommentare » | Allgemein, Erkenntnis, Freier Wille, Kausalismus, Subjekte