Die Tätigkeitstheorie ist seit ihrer Konstituierung vor inzwischen fast 100 Jahren ein umfassendes wissenschaftliches Konzept mit großer internationaler Ausstrahlung geworden.
Führende Köpfe der Entwicklung dieser Theorie waren u.a. Vygotsky, Leont´ev und Luria. Sie werden auch heute nicht nur immer angeführt, sondern ihre grundlegenden Begriffe und theoretischen Auffassungen werden noch immer unmittelbar genutzt, wenn es gilt, die kulturhistorische Schule und die Tätigkeitstheorie zur methodischen Gestaltung neuer Untersuchungen zu nutzen. Für mich ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass es seit der Entstehung dieses Konzepts keine verbreitete Weiterentwicklung ihrer theoretischen Grundlagen gegeben hat. Außer meinen Versuchen ist mir nur noch der Ansatz Engeströms bekannt.
Ein Grund dafür scheint mir der Umstand zu sein, dass die Tätigkeitstheorie weithin als i.e.S. psychologische Theorie aufgefasst und betrieben wird. Dadurch werden der Tätigkeit als ihrer grundlegenden Kategorie Merkmale zugeschrieben, die nur der Tätigkeit solcher Subjekte zukommen, die mit Psyche ausgestattetet sind. Eine weitere Verengung der Tätigkeitstheorie resultiert daraus, dass die Psyche ausschließlich oder überwiegend als menschliche Psyche betrachtet wird, wodurch meist nur die menschliche Tätigkeit gemeint ist, auch wenn der Terminus „Tätigkeit“ in seiner allgemeinen Form benutzt wird. Man meint nicht, was man sagt.
Dieses Problem ließe sich durch einen breiten terminologischen Konsens lösen. Bei einem anderen Problem ist das nicht mehr der Fall. Dieses ergibt sich daraus, dass die Tätigkeitstheorie auf dem Konsens entwickelt wurde, den Marxismus als philosophisch-weltanschauliche Grundlage der psychologischen Theorie zu betrachten. Dadurch erhielt die Tätigkeitstheorie eine ideologische Ausrichtung.
Dabei verschwand der Umstand aus dem Fokus des Denkens, dass Erkenntnistheorie (jedenfalls in ihrer marxistischen Auffassung) einen anderen Gegenstand hatte als die primär psychologisch orientierte Tätigkeitstheorie. Die marxistische Erkenntnistheorie hat zu ihrem Gegenstand die Erkenntnis als gesellschaftliche Erkenntnis, die Erkenntnis der Gesellschaft als Gesamtsubjekt, während der native Gegenstand der Psychologie die individuelle Erkenntnis ist, das Erkennen des individuellen Subjekts. Die undifferenzierte Übertragung von Eigenschaften von einem Gegenstand auf den anderen führt nicht selten zu Fehlern und logischen Widersprüchen.
In der Tätigkeitstheorie geschieht das, indem die These übernommen wird, das Psychischesei die Widerspiegelung der Realität.
Die Orientierung am Marxismus führte folgerichtig dazu, das Psychische, d.h. das Individuelle als Widerspiegelung der Realität auszufassen, dem Psychischen wird Abbildcharakter zugeschrieben. In diesem ideologischen Rahmen sind jedoch – und das nicht nur in der Psychologie -  nur empiristische Auffassungen über Erkenntnis möglich. Konstruktivistische Auffassungen sind mit der Widerspiegelungstheorie logisch unvereinbar.
Andererseits ist die Kategorie der Praxis eine weitere tragende Komponente der marxistischen Erkenntnistheorie. „Praxis“ ist im Marxismus nur als gesellschaftliche Kategorie denkbar, nicht aber als individuelle. Zum anderen ist diese  Kategorie ist zutiefst konstruktivistisch, betont sie doch das Primat des Subjekts, wie es ganz prägnant in der ersten Feuerbachthese zum Ausdruck kommt. Auch das Sinnliche hat bei Marx und Engels keinen sensualistischen Charakter, wie das in der Psychologie gewöhnlich üblich ist.
Nun ist die Kategorie der Tätigkeit wie die der Praxis nur konstruktivistisch denkbar, als Kategorie, in der ein autonomes Subjekt seine Tätigkeit aktiv gestaltet und seine Bedürfnisse befriedigt. Nicht die Einwirkungen der Umwelt bestimmen und gestalten die Tätigkeit, sondern das autonome Subjekt. (Tätigkeit ist nicht als Reaktion auf physikalische oder chemische „Reize“ verstehbar. Dieser Standpunkt wird neuerdings auch von Neurophysiologen z.B. Björn Brembs vertreten).
Zur Zeit der Entstehung der Tätigkeitstheorie war der Konstruktivismus aber noch weit von seiner Etablierung als ernsthaftes erkenntnis- und wissenschaftstheoretisches Konzept entfernt. Die Auffassungen ihrer Vorläufer (Mach u.a.) waren von Lenin in „Materialismus und Empiriokritizismus“ vom Standpunkt des Marxismus als „feindlich“ charakterisiert worden und fielen so unter das ideologische Verdikt.
Die Psychologie der Tätigkeitstheorie versuchte, diesen Widerspruch durch verschiedene Hilfkonstruktionen zu lösen, durch die sie der Widerspiegelung einen aktiven, schöpferischen Charakter zuschrieb, ein subjektives Moment. Damit aber implementierte sie die Widersprüche ihrer philosophischen Grundlage in ihre Wissenschaft.
Das gilt auch für den Ansatz Rubinsteins, der in den Prozess der Widerspiegelung eine subjektive Brechung implementierte. Anochin dagegen entwickelte die Hilfskonstruktion der „vorgreifenden Widerspiegelung“. Das Widerspiegelungskonzept prinzipiell als Konzept des Psychischen aufzugeben wurde nur von Vygotsky in der „Krise der Psychologie“ versucht.
Man kann einem Begriff nicht nachträglich Eigenschaften zuschreiben, die zuvor per definitionem ausgeschlossen worden sind, ohne sich in unlösbare Widersprüche zu verwickeln. Vygotsky hat das bereits vor über 80 Jahren in seiner „Krise der Psychologie“ dargelegt. Er schreibt:
„Die Psychologie möchte eine Naturwissenschaft von nichtnatürlichen Erscheinungen sein. Mit der NaturwisÂsenschaft verbindet sie ein rein negativer Zug, die Ablehnung der Metaphysik, jedoch nicht ein einziger positiver.“ (S190)
Und weiter:
 „Der Begriff empirische Psychologie enthält folglich einen unlösbaren methodologischen Widerspruch: Es handelt sich hier um eine Naturwissenschaft von nichtnatürlichen Dingen, um die Tendenz, mit der Methode der Naturwissenschaften ein ihnen polar entgegengesetztes Wissenssystem zu entwickeln, das aus polar entgegengesetzten Prämissen hervorgeht. Eben das wirkte sich verderblich auf die methodologische Konstruktion der empirischen Psychologie aus und brach ihr das Genick.“ (S.192) Dieser Widerspruch ist auch in der philosophischen Grundlage der Tätigkeitstheorie verankert und verhindert bis heute ihre Weiterentwicklung als Theorie.Â
In einer seiner letzten Arbeiten stellt Leont´ev (1975) dazu fest:
„Und bezeichnend ist, wie die maßgebendsten Autoren eingestehen, daß es derzeit keine überzeuÂgende allgemeine Theorie der Wahrnehmung gibt, die geeignet wäre, die angehäuften Kenntnisse zu erfassen und ein konzeptuelles System zu entwerfen, das den Forderungen der dialektisch-materialistischen Methodologie entspricht. … Im Ergebnis triumphiert in Ãœbersichtsarbeiten, die für sich in AnÂspruch nehmen, das Problem umfassend zu behandeln, offene EklekÂtik.“ (Leont´ev 1981, S.6)
Dass diese Beschreibung auch heute noch und nicht nur für marxistisch orientierte Psychologien zutrifft, kann man einer „Standortbestimmung“ entnehmen, die von einer Reihe führender deutscher Psychologen 2005 publiziert wurde.
Leont´ev hat erst in seinen letzten Arbeiten zur Wahrnehmung konstruktivistische Ansätze entwickelt, ohne sich jedoch  jedoch prinzipiell mit deren philosophischen Aspekten auseinanderzusetzen. So verharrt die Tätigkeitstheorie dreifach gefesselt:
·        Sie wird überwiegend als psychologische Theorie betrachtet und durch die Auffassung der Psychologie als Naturwissenschaft in deren Paradigmensystem gezwängt.
·        Zu dieser Auffassung wird sie durch ihre ideologische Bindung an den Marxismus gedrängt, wobei sie unkritisch Erkenntnis der Gesellschaft als Ganzes und individuelle Erkenntnis methodisch identifiziert. Das verhindert, dass das Individuum in seiner spezifischen individuellen Qualität gefasst wird.
·        Das Postulat, das Psychische als Widerspiegelung aufzufassen verhindert, dass konstruktivistische Gedanken aufgegriffen werden, ein Denkverbot, das durch die leninistische Fassung dieses Begriffs verschärft wurde.
·        Schließlich ist der marxistische Begriff der gesellschaftlichen Erkenntnis nicht auf die Psyche anwendbar, Psyche ist nativ individuell.
Zum Schluss noch eine persönliche Anmerkung: Meine wissenschaftliche Entwicklung vollzog sich im Paradigma der marxistischen Erkenntnistheorie. Es war nicht leicht, sich von diesen philosophischen Voraussetzungen zu befreien und zu erkennen, dass sie im wissenschaftlichen Denken zu Fesseln geworden waren – so wichtig sie auch im täglichen Leben sein mögen.
 Literatur:Â
Psychologie im 21. Jahrhundert – eine Standortbestimmung. Gehirn & Geist, Heft 7-8/2005, S. 56-60,
Anochin, Pjtor Kusmitsch (1978): Beiträge zur allgemeinen Theorie des funktionellen Systems, Gustav Fischer Verlag, Jena,
Brembs, Björn (2010): Towards a scientific concept of Free Will as a biological trait: spontaneous actions and decision-making in invertebrates. Proceedings of the Royal Society B,
Engeström, Yrjö (1999): Lernen durch Expansion, BdWi-Verlag, Marburg,
Holzkamp, Klaus (1983): Grundlegung der Psychologie, Campus Verlag, Frankfurt-New York (S. 68ff.)
Lenin, W. I. (1947): Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie. Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau,
Leontjew, Alexej (1975): Psychologie des Abbilds. In Forum Kritische Psychologie 9 (1981), Seiten 5 bis 19,
Vygotskij, Lev, S. (2003): Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung. In Ausgewählte Schriften Band I, Seiten 57 bis 278,
Wittich, Dieter; Gößler, Klaus; Wagner, Kurt (1980): Marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin.
 Die erste Feuerbachthese:
„Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus - den Feuerbachschen mit eingerechnet - ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher geschah es, daß die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus, vom Idealismus entwickelt wurde - aber nur abstrakt, da der Idealismus natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt. Feuerbach will sinnliche, von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedene Objekte; aber er faßt die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit. Er betrachtet daher im “Wesen des Christenthums” nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche, während die Praxis nur in ihrer schmutzig-jüdischen Erscheinungsform gefaßt und fixiert wird. Er begreift daher nicht die Bedeutung der “revolutionären”, der praktisch-kritischen Tätigkeit.“ (Marx-Engels Werke, Band 3, Seite 533 ff. Dietz Verlag Berlin, 1969)
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