Gödel und die Evolutionstheorie
23. November 2009 - 10:37 UhrDie Menge unseres Wissens ist keine EnzyklopĂ€die, in der die einzelnen Erkenntnisse wie Erbsen in einem Sack herumliegen und es gleichgĂŒltig ist, was sich wo befindet. Die Gesamtheit unserer Erkenntnis bildet vielmehr eine sinnvolle Ordnung, in der die einzelnen Elemente unseres Wissens bestimmten anderen Elementen auf bestimmte Weise zugeordnet sind. Diese Ordnung setzt uns in die Lage, diese Erkenntnis als Bild einer geordneten Welt zu benutzen, das es uns ermöglicht, uns in unserer Welt zu orientieren und unsere Aktionen zielstrebig zu steuern.
Diese Ordnung der Erkenntnis weist nun gröĂere oder kleinere âClusterâ auf, die jeweils Bereiche der RealitĂ€t abbilden, wie Lebewesen, Wetter oder menschliche Werkzeuge. Diese Cluster sind nun relativ disjunkt, d.h. die Begriffe des einen Clusters eignen sich nicht zur Abbildung von GegenstĂ€nden eines anderen Clusters. So ist âFortpflanzungâ ungeeignet zur Abbildung der Wolkenbildung. Beim Fehlen geeigneter Termini eines Clusters wird gelegentlich ein Terminus eines anderen Clusters benutzt, um gewisse Eigenschaften des zu beschreibenden Gegenstandes darzustellen. Das Bild des einen Gegenstandes wird dann als Metapher fĂŒr das Abbild eines anderen Gegenstandes benutzt, In dieser Weise benutze ich hier beispielsweise das Wort âClusterâ.
Mit der Entstehung und Entwicklung der Wissenschaften sind die Cluster der umgangssprachlichen Erkenntnis zu den GegenstĂ€nden der verschiedenen Wissenschaften wie Physik, Biologie, Psychologie oder Linguistik geworden. In den Wissenschaften wurden die ursprĂŒnglichen Termini der umgangssprachlichen Erkenntnis prĂ€zisiert, umgestaltet, durch andere ersetzt und durch neue Termini ergĂ€nzt, die ihrerseits in verschiedener Weise ihren Weg zurĂŒck in die Umgangssprache gefunden haben und finden. Auf den Punkt gebracht hat diese Disjunktheit wissenschaftlicher Theorien Kurt Gödel mit der Formulierung des UnvollstĂ€ndigkeitssatzes. Dieser besagt, dass es in hinreichend mĂ€chtigen Systemen Aussagen geben muss, die man formal, d.h. innerhalb dieses Systems, mit dessen Mitteln weder beweisen noch widerlegen kann. Ein solcher Beweis ist nur in einer anderen Theorie möglich.
Da die Menschen nun ĂŒber mehrere solcher Erkenntnissysteme verfĂŒgen, pflegen sie bei der Beschreibung einer Erscheinung mĂŒhelos und meist unreflektiert zwischen verschiedenen Erkenntnissystemen zu wechseln.
So lĂ€sst sich zunĂ€chst problemlos die Aussage formulieren, dass es Konstellationen chemischer EntitĂ€ten geben kann, welche die Eigenschaften des Lebens wie Selbsterhaltung, Fortbewegung und die FĂ€higkeit zu zielstrebigen Bewegungen aufweisen. Die Termini, mit denen hier chemische EntitĂ€ten beschrieben werden, sind aber keine Termini der Chemie, sondern der Biologie und anderer Wissenschaften, die in der chemischen Theorie nicht definiert werden können und dort daher keine Bedeutung haben. Die Aussage ist von gleicher Art wie etwa die Aussage âDas Wasserstoffatom ist grĂŒn.â Die Wörter fĂŒr Farben sind keine Termini der Kernphysik.
Die Beschreibung der genannten Eigenschaften gewisser chemischer EntitĂ€ten nur mit Termini der Chemie ist jedoch nicht möglich. Dazu sind vielmehr Termini der Biologie erforderlich, die nicht aus denen der Chemie abgeleitet werden können sondern auf der Grundlege eigenstĂ€ndiger Wahrnehmungen neu gebildet werden mĂŒssen. Der Streit darum wird seit Jahrhunderten bis auf den heutigen Tag als Mechanismus-Vitalismus-Streit ausgefochten. Ein Ă€hnlicher Streit tobt heute zwischen Psychologie und Neurophysiologie um die Frage, ob die psychischen Prozesse vollstĂ€ndig auf neurophysiologische VorgĂ€nge zurĂŒckgefĂŒhrt werden können oder nicht. Allgemein gesprochen geht es auf hier um das Problem es Reduktionismus, d.h. um die Frage, ob alle Erscheinungen der Welt in einer einzigen, einheitlichen Theorie abgebildet und erklĂ€rt werden können.
Die AnhĂ€nger des Reduktionismus begrĂŒnden ihre Auffassung letztlich damit, dass ja die Welt eine einheitliche Welt sei, die auch in einer einheitlichen Theorie abgebildet werden kann. Diese Auffassung basiert letztlich und meist unreflektiert auf einem empiristischen Konzept der Erkenntnis, das Erkenntnis auf die RealitĂ€t zurĂŒckfĂŒhrt. Betrachtet man die Erkenntnis als autonome und konstruktive Leistung eines tĂ€tigen Subjekts, wird diese BegrĂŒndung gegenstandslos. Erkenntnis kann nicht durch die Eigenschaften der erkannten RealitĂ€t erklĂ€rt werden, sondern nur durch die BedĂŒrfnisse des tĂ€tigen Subjekts.
Da (menschliche) Erkenntnis nur durch Sprache (und andere GegenstĂ€nde der Kultur) ausgedrĂŒckt werden kann, kann die Frage nach der Möglichkeit einer einheitlichen Theorie nur durch die Untersuchung der Eigenschaften dieser Erkenntnismittel beantwortet werden. Etwas vereinfacht lautet diese Frage dann: âKönnen alle möglichen SĂ€tze in einer einheitlichen Sprache abgeleitet und bewiesen werden?â
Versteht man den Gödelschen UnvollstĂ€ndigkeitssatz in einem solchen allgemeinen Sinn, dann heiĂt die Antwort âNeinâ. Menschliche Sprache muss notwendig in Clustern organisiert sein, die nicht vollstĂ€ndig auseinander abgeleitet und bewiesen werden können.
Chemie, Biologie, Neurophysiologie, Psychologie usw. werden spezielle Fachsprachen verwenden, die nicht aufeinander zurĂŒckgefĂŒhrt werden können. Damit aber ist ein neues Dilemma eröffnet: Wie kann dann eine Evolutionstheorie konstruiert und bewiesen werden, die ja den Ăbergang zwischen den in unterschiedlichen Erkenntnisclustern abgebildeten RealitĂ€tsbereichen behauptet? Leben entsteht danach aus chemischen Prozessen, Psyche aus neurophysiologischen Prozessen usw.
Bei der ErklĂ€rung solcher Prozesse muss immer der Ăbergang zwischen Theorien bewĂ€ltigt werden, die in disjunkten ErkenntnisrĂ€umen abgebildet werden. Es geht also nicht darum, den Ăbergang zwischen unterschiedlichen RealitĂ€tsbereichen zu verstehen, sondern um den Ăbergang zwischen unterschiedlichen Erkenntnisbereichen mit unterschiedlichen Terminologien.
In den Naturwissenschaften fĂŒhrt dieser Umstand zu Problemen, die sich aus der Theorie der Evolution ergeben. Die Evolutionstheorie behauptet, dass sich EntitĂ€ten eine RealitĂ€tsbereichs aus EntitĂ€ten anderer RealitĂ€tsbereiche entwickelt haben. So soll Leben aus chemischen Prozessen, Psyche und Geist aus neurophysiologischen Prozessen hervorgegangen sein. Nicht einmal diese Fragen lassen sich hinreichend exakt formulieren, denn sie erfordern die gleichzeitige Anwendung von Termini unterschiedlicher Erkenntnisbereiche, die in dem jeweils anderen Erkenntnisbereich nicht definierbar sind wie etwa die Frage âWelche Farbe haben Atome?â.
Der Versuch, den Ăbergang von einem RealitĂ€tsbereich zu einem anderen innerhalb einer einheitlichen Theorie abzubilden, endet gewöhnlich in Konstrukten wie âFulgurationâ, âEmergenzâ oder in irgendeiner Schöpfungstheorie.
Akzeptiert man jedoch den Gödelschen UnvollstĂ€ndigkeitssatz, dann kann man akzeptieren, dass ĂbergĂ€nge zwischen RealitĂ€tsbereichen mit in einer, sondern mindesten mit zwei Theorien abgebildet werden mĂŒssen. Es muss also die Frage beantwortet werden, wie der Ăbergang von einem RealitĂ€tsbereich zum anderen durch den Ăbergang von einer Theorie zur anderen abgebildet werden kann.
Dieser Ăbergang wird bewĂ€ltigt durch eben die Aussagen, die in einer Theorie zwar gebildet, aber nicht bewiesen werden können. Nehmen wir als Beispiel die Entstehung des Lebens. In der Theorie der Chemie lĂ€sst sich die Aussage formulieren: âLeben ist ein chemischer Prozess, durch den sich mindestens ein Reaktionspartner unverĂ€ndert erhĂ€lt.â Diese Aussage enthĂ€lt kein Wort, das in der Fachsprache der Chemie nicht definierbar wĂ€re. Der Beweis dieses Satzes jedoch erfordert Termini, die nicht Bestandteil der Fachsprache der Chemie sind, sondern der Fachsprache der Biologie entnommen sind und dort beispielsweise der Beschreibung der Orte dienen, an denen diese Prozesse stattfinden, z.B. âRibosomâ. Im Reagenzglas der Chemiker finden solche Prozesse nicht statt. Beim Ăbergang zwischen Begriffssystemen spielen âbivalente Begriffe eine besondere Rolle.
Wenn wir den Ăbergang zwischen Theorien logisch und erkenntnistheoretisch beherrschten, brĂ€uchten wir weder eine Weltformel noch Begriffe wie âEmergenzâ, die unser Unwissen nur verbergen. Wir brauchen also nicht âeine âTheorie fĂŒr allesâ, sondern fĂŒr jedes seine Theorie, die wir mit allen anderen logisch und semantisch widerspruchsfrei gestalten können ohne unsere Unkenntnis hinter Worten wie “Emergenz” usw, zu verbergen.
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