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Linguistisches missing link gefunden?

10. April 2010 - 10:03 Uhr

Daniel Everett und die Sprache der Pirahã haben den alten Streit der Linguisten über die Frage, ob die Sprache dem Menschen angeboren ist, aufs Neue entfacht. Ausgezogen als christlicher Missionar, der brasilianischen Indianern die Bibel in deren eigene Sprache übersetzen wollte, kam er nicht nur mit neuen Erkenntnissen über die menschliche Sprache und deren Theorie zurück, sondern auch mit einem neuen Weltbild, in dem wie bei den Pirahã weder der christliche noch ein anderer Gott einen Platz gefunden hat.

Sein nun auch in deutscher Sprache vorliegendes Buch „Das glücklichste Volk“ lässt uns an drei spannenden Reisen teilhaben. Da ist zum ersten die Reise in den brasilianischen Urwald, dessen fremde Natur ihn und seine Familie in sieben Jahren  nicht wenige Abenteuer bestehen lässt. Da ist zu anderen die Reise in eine fremde Kultur und zu einer fremden Sprache, die Everett anschaulich beschreibt und die wir nur staunend bewundern können. Und da ist zum dritten die Reise eines christlichen Missionars, die ihn durch das tiefe Eindringen in die Kultur der Pirahã vom christlichen Glauben zu einer nontheistischen Weltanschauung geführt hat.

Diese Reisen führten Everett auch zu einem Wechsel seiner wissenschaftlichen Auffassungen über die Natur der menschlichen Sprache. Ausgehend von dem Auffassungen Chomskys über eine letztlich allen Menschen angeborenen Universalgrammatik entwickelte er die Auffassung, das Sprache und Grammatik vielmehr durch die Kultur der Gesellschaft bestimmt werden. In dieser Auffassung steht er zwar nicht allein, nimmt aber Auffassungen der  der „kulturhistorischen Theorie“ anscheinend ebenso wenig zur Kenntnis wie etwa die Arbeiten Merlin Donalds über die kulturelle Determination neurophysiologischer Prozesse. Allein die empirische Analyse der Sprache der Pirahã und deren Grammatik führten ihn zu diesem Standpunkt.

Die Pirahã kennen keine Wörter für Zahlen, keine Wörter für Farben und keine Wörter für gestern und heute. Die Sprache der Pirahã kennt auch keine Nebensätze und keine Einbettungen. Das Pirahä gehört unter allen Sprachen der Welt zu denen mit der geringsten Zahl an Phonemen: Es gibt für Männer nur drei Vokale (i, a, o) und acht Konsonanten (p, t, k; s, h, b, g und den Knacklaut oder Glottisverschlusslaut (x) und für Frauen drei Vokale (i, a, o) und sieben Konsonanten (p, t, k, h, b, g und x. sie benutzen h an allen Stellen, wo Männer h oder s aussprechen). Frauen haben also weniger Konsonanten als Männer. Das ist zwar nicht einzigartig, es ist aber zumindest ungewöhnlich. (Zum Vergleich: Das Deutsche hat etwa 40 Phoneme, Dialekte haben oft noch mehr.)

Es fällt auf, dass die Beschreibung des Pirahã vor allem durch die Aufzählung fehlender Merkmale erfolgt, also durch die Beschreibung desen, was diese Sprache alles nicht hat. Diese dem Pirahã fehlenden Elemente werden jedoch von der linguistischen Theorie jedoch als Merkmale einer Sprache gefordert. Ihr Fehlen führt Everett zu dem Schluss, dass diese Theorien als allgemein gültige Paradigmata ungeeignet sind und ein anderes Erklärungsprinzip erforderlich ist.

Als dieses Erklärungsprinzip schlägt Everett das „Prinzip des unmittelbaren Erlebens“ (immediacy of experience principle, IEP) vor. Dieses Prinzip besagt, dass das Pirahã nur Aussagen enthält, die unmittelbar mit dem Augenblick des Sprechens zu tun haben, weil sie entweder vom Sprecher selbst erlebt wurden oder weil jemand, der zu Lebzeiten des Sprechers gelebt hat, ihr Zeuge war.

Die Gültigkeit dieses Prinzips ist nicht auf die Sprache beschränkt, sondern hat den Rang eines allgemeinen kulturellen Prinzips, das in allen Lebensbereichen der Pirahã wirkt. Er schreibt:

„Nach und nach fielen mir immer mehr Beobachtungen ein, die für den Wert des unmittelbaren Erlebens zu sprechen schienen. So erinnerte ich mich beispielsweise daran, dass die Pirahã keine Lebensmittelvorräte anlegen, nicht für mehr als einen Tag auf einmal planen und nicht über die entfernte Vergangenheit oder Zukunft reden - sie konzentrieren sich ganz offensichtlich auf das Jetzt, auf ihr unmittelbares Erleben. Das ist es!, dachte ich eines Tages. Das verbindende Element von Sprache und Kultur der Pirahã ist die kulturelle Beschränkung, nicht über irgendetwas zu sprechen, das über das unmittelbare Erleben hinausgeht.“ (S. 199)

und

„Das Prinzip des unmittelbaren Erlebens ermöglicht überprüfbare Voraussagen, und darin zeigt sich, dass es sich nicht nur um eine negative Aussage über etwas handelt, das im Pirahã fehlt, sondern um eine positive Behauptung über das Wesen dieser Grammatik und darüber, wie sie sich von anderen, allgemein bekannten Grammatiken unterscheidet.“ (S. 349)

Dabei handelt es sich offensichtlich nicht allein um Besonderheiten der Sprache, sondern auch um Besonderheiten des Erkenntnissystems der Pirahã, das sehr eng an die unmittelbare Wahrnehmung gebunden iat. So enthält dieses Erkenntnissystem keine Schöpfungsmythen oder andere Überlieferungen. Diesem Prinzip entspricht auch ihr einfaches Verwandtschaftssystem. Infolge der geringen Lebenserwartung leben gewöhnlich nur drei Generationen gleichzeitig nebeneinander, ein Wort – und damit ein Begriff – für „Urgroßvater“ fehlt – es ist nach diesem Prinzip auch nicht erforderlich.

Die Bedeutsamkeit der Wahrnehmbarkeit spiegelt sich auch darin wieder, dass die Pirahã ein eigenes Wort benutzen, um die Wahrnehmbarkeit als kulturelles Konzept zu bezeichnen. Das herauszufinden, so berichtet Everett, hat ihn viel Mühe gekostet. Er schreibt

„Offensichtlich beschreibt das Wort Xibipíío ein kulturelles Konzept oder eine Wertvorstellung, zu der es in unserer Sprache keine eindeutige Entsprechung gibt. Natürlich kann auch bei uns jeder sagen” lohn ist verschwunden” oder »Billv ist gerade aufgetaucht”, aber das ist nicht das Gleiche. Erstens benutzen wir für Auftauchen und Verschwinden unterschiedliche Wörter, das heißt, es sind auch unterschiedliche Konzepte. Noch wichtiger ist aber, dass wir uns zweitens vor allem auf die Identität der kommenden oder gehenden Person konzentrieren und nicht auf die Tatsache, dass sie gerade unseren Wahrnehmungsbereich betreten oder verlassen hat.Schließlich wurde mir klar, dass dieser Begriff das benennt, was ich als Erfahrungsschwelle bezeichne: den Vorgang, die Wahrnehmung zu betreten oder zu verlassen und sich damit an den Grenzen des Erlebens zu befinden.“ (S.196)

                               *

Diese und andere von Everett beschriebenen Besonderheiten der Kultur der Pirahã und ihrer Sprache habe ich mit besonderem Interesse zur Kenntnis genommen, bestätigen sie doch eigene theoretische Erwägungen über die Entstehung der menschlichen Sprache.

Unter anderem geht es mir bei diesen Überlegungen um die Frage, wie die Wörter einer Sprache zu ihren gesellschaftlichen Bedeutungen kommen. Wie kommt es dazu, dass alle Mitglieder einer Gemeinschaft mit einem bestimmten Wort die gleiche Bedeutung verbinden? In einer sprechenden Gesellschaft ist das klar: durch Lernen durch Wahrnehmung. Ein Kenner des Wortes sagt es und zeigt auf den Gegenstand. Beide nehmen den gleichen Gegenstand wahr und erzeugen das psychische Abbild dazu. Wie aber, wenn es noch keine Sprache gibt, in der sich die Individuen verständigen können?

Ich habe vorgeschlagen, ein hypothetisches Stadium vorsprachlicher Zeichen anzunehmen, das aus der Verwendung von Werkzeugen in der gemeinsamen arbeitsteiligen unmittelbar hervorgehen kann (vgl. Litsche 2004, S, 455ff.). In gemeinsamer Tätigkeit benutzte Werkzeuge sollten die die ersten „Träger“ gesellschaftlicher Bedeutungen gewesen, so wie sie es auch heute noch sind. Sie können in einer sprachlosen Kommunikation der Organisation kollektiver Tätigkeiten dienen. Wenn sich eine Gruppe von Menschen zum Zweck des Schneeschippens treffen, genügt es, die vorhandenen Werkzeuge auf die Anwesenden aufzuteilen, und jeder weiß, was er zu tun hat. Was mit einem Besen oder einer Schaufel zu tun ist, weiß jeder aus eigener Wahrnehmung.

Die entscheidende Bedingung für das Entstehen gesellschaftlicher Bedeutungen ist demnach die Benutzung von Werkzeugen in gemeinsamer, arbeitsteiliger Tätigkeit.

An die Stelle der „echten“ Werkzeuge können in der Planungsphase der Tätigkeit Spielzeuge oder farbige Kugeln als Zeichen für die Werkzeuge treten, um den gleichen Effekt zu erzielen. Die Bedeutung dieser Zeichen kann auch ohne Sprache durch Wahrnehmung kommuniziert werden, indem Zeichen und Werkzeug gemeinsam gezeigt werden.

Auf diese Weise kann ein ganzes System sprachloser Zeichen und gesellschaftlicher Bedeutungen geschaffen werden. Aus der ursprünglichen Kultur kollektiver Werkzeuge entsteht eine Kultur sprachloser Zeichen, in der eine umfangreiche Kommunikation ohne Sprache möglich wird. Einige Aspekte einer solchen Kommunikation habe ich auf meiner Website dargestellt.

Zeichen und gesellschaftliche Bedeutungen können also bereits vor der Sprache entstanden sein. Sie sind die Grundlage für den nächsten Schritt der Evolution, die Umwandlung der Laute der werdenden Menschen in sprachliche Zeichen. Die Sprache kann entstehen, weil bereits ein System vorsprachlicher gesellschaftlicher Zeichen und Bedeutungen vorhanden ist. Das ist das, was den rezenten Menschenaffen zur Ausbildung einer gesellschaftlichen Sprache fehlt.

Die nichtsprachlichen Zeichen, die wir heute benutzen, bedürfen immer eines Bezugs zur Sprache. Das unterscheidet sie von den hypothetischen vorsprachlichen Zeichen.

Ein solches vorsprachliches Zeichensystem würde Merkmale aufweisen, die Everett auch in der Sprache der Pirahã gefunden hat. In einer Kultur vorsprachlicher Zeichen sind keine Zeichen möglich, die Eigenschaften getrennt von deren gegenständlichen Trägern bezeichnen. Mit den vorsprachlichen Zeichen könnten also beispielsweise keine isolierten Farben und keine Zahlen dargestellt werden. Zahlzeichen und Farbzeichen sind nicht als anschaubare gegenständliche Zeichen möglich.

                          Xibipíío

Everetts Entdeckung hat meinen Wahrnehmungsbereich ungemein bereichert. Im Pirahã finde ich viele Eigenschaften meines hypothetischen Systems vorsprachlicher Zeichen wieder. Mit der Beschreibung dieser Sprache nähert sich mein theoretisches Konstrukt nun der “Wahrnehmungsschwelle”.

Die Sprache der Pirahã erscheint mir als eine sehr ursprüngliche Sprache, die einer Kultur der vorsprachlichen Zeichen noch sehr nahe ist. Das Pirahã könnte so ein missing link im Prozess der Evolution der menschlichen Sprache sein, das die Lautsprache mit dem System der vorsprachlichen Zeichen verbindet.

 

Caroll, Lewis (1993): Alice im Wunderland, Lentz-Verlag, München, S. 52.

Donald, Merlin (2008): Triumph des Bewusstseins * Die Evolution des menschlichen Geistes, ,

Litsche, Georg A. (2004): Theoretische Anthropologie * Grundzüge einer theoretischen Rekonstruktion der menschlichen Seinsweise, Lehmanns Media-LOB, Berlin.

3 Kommentare » | Erkenntnis, Evolution, Psyche, Sprache, Wahrnehmung