Ein hinderliches Vorurteil der Physik

In seinem Blog „Die Natur der Naturwissenschaft” hat Honerkamp einen lesenswerten Beitrag über Vorurteile und Vorwissen in der Physik geschrieben. Darin geht es u.a. darum, welche Bedeutung Vorurteile und Vorwissen für die Bewertung von experimentellen Daten haben.

In den Wissenschaften wird das Vorurteil gewöhnlich „Paradigma” genannt, das die Wissenschaftler eines Faches oder einer wissenschaftlichen Schule eint. Dieses wissenschaftliche Vorurteil hilft nicht nur bei der Bewertung experimentellen Daten, sondern hat auch großen - oft bestimmenden - Einfluss darauf, welche Experimente überhaupt gemacht und welche Daten gewonnen werden können.

Eines der stärksten Vorurteile der Physik ist die Auffassung, das jedes Ereignis eine Ursache haben müsse, aus dem man dieses Ereignis vorher sehen und berechnen könne. In diesem Paradigma dachte wohl Newton, als er die Schwerkraft entdeckte.

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Wie kolportiert wird, lag Newton unter einem Apfelbaum, als sich plötzlich einer löste und im auf den Kopf fiel. Erst wenn man denkt, dass nichts ohne Ursache geschieht, stellt sich die Frage, was denn die Ursache für diese Bewegung des Apfels ist. Mit dem Konzept der Schwerkraft kann diese Frage logisch widerspruchsfrei beantwortet werden.

Die Frage aber, warum sich ein Vogel, der auf dem Ast sitzt, an dem der Apfel hing, plötzlich und von allein in die Luft erhebt und entgegen der Schwerkraft davon fliegt, ist in diesem Paradigma nicht zu beantworten. Die Antwort „weil er das tun will” hat im kausalistischen Paradigma keinen Platz, der Wille ist - noch - keine Kategorie der Physik.

So wertvoll das Kausalitätsparadigma in der Physik auch sein mag, in anderen Wissenschaften gilt es nicht. Hemmend wirkt aber, dass dieses Paradigma zum Kriterium von Wissenschaftlichkeit und besonders der Naturwissen­schaften schlechthin gemacht wurde. Seine Anwendung auch auf die Geisteswissenschaften führt dazu, dasss die Geisteswissenschaften manchen Naturwissenschaftlern suspekt erscheinen, wenn sie nicht gar als „Verbalwissenschaften” zu Wissenschaften 2. Klasse degradiert werden. 

Die Biologie - und in ihrem Gefolge die Psychologie - wollen sich selbst als Naturwissenschaften begreifen. Um Vorgänge, wie das Fortfliegen des Vogels beschreiben zu können, haben sie das Konzept des Verhaltens entwickelt, in dem die Kategorien „Reiz” und „Reaktion” die Leerstellen von Ursache und Wirkung besetzen, womit sie es sich unter den wärmenden Fittiche der Physik bequem gemacht haben. Das aber ist trügerisch: Der Zusammenhang Reiz - Reaktion ist nicht physikalisch, sondern informationell, und keine Reaktion kann aus den physikalischen Parametern des Reizes berechnet werden. Damit hat die Biologie sich ebenso wie die Physik der Aufgabe entledigt, eine physikalische Kategorie des Willens zu entwickeln.

Diese Aufgabe wurde bereits von Schrödinger im Jahre 1944 weitsichtig formuliert:

„Man wird nicht erwarten, daß zwei vollständig voneinander verschiedene Mechanismen die gleiche Art von Gesetzlichkeit hervorbringen - man wird schließlich auch nicht erwarten, daß der eigene Hausschlüssel auch zur Türe des Nachbarn paßt.

Die Schwierigkeit, den Lebensvorgang mit Hilfe der gewöhnlichen physikalischen Gesetze zu deuten, braucht uns deswegen nicht zu entmutigen. Die Einsicht in die Struktur der lebenden Substanz, die wir gewonnen haben, läßt ja nichts anderes erwarten. Wir müssen bereit sein, hier physikalische Gesetze einer ganz neuen Art am Werk zu finden. Oder sollten wir lieber von einem nichtphysikalischen, um nicht zu sagen überphysikalischen Gesetz sprechen?” /1/

Es ist also an der Zeit, ein physikalisches Konzept des Willens zu entwickeln, in dem biotische Aktionen begrifflich und terminologisch widerspruchsfrei beschrieben werden können.Aber auch diese Begriffe ermöglichen es nicht, die Kategorie des Willens physikalisch zu fassen. Der Begriff des offenen thermodynamischen Systems ermöglicht beschreibt nur Prozesse, die in Richtung des thermodynamischen Gefälles, „bergab” verlaufen. Damit können ohne Zweifel viele biologische Teilprozesse abgebildet werden, aber nicht die Seinsweise von Lebewesen als Ganze. Sie vollziehen Prozesse, die gegen das Gefälle verlaufen, „bergauf“. Das Wachstum, ohne das Leben nicht möglich ist, kann nur als Ergebnis von Prozessen gedacht werden, die „bergauf” ablaufen. Solche Prozesse sind aber innerhalb der physikalischen Paradigmata der Thermodynamik nicht beschreibbar.

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Abbildung 1: Aktion und Reaktion, E Ereignis, U Ursache. Für die Reaktion gilt: E=f(U)

Es ist also erforderlich, dieses Vorurteil zu überwinden und thermodynamische Systeme zu konstruieren, die bergauf funktionieren und dadurch nicht nur zu Reaktionen, sondern auch zu Aktionen fähig sind. Aktionen sind per definitionem  physikalische Ereignisse, die von selbst, spontan, ablaufen und sich nicht aus einer Einwirkung vorher sagen oder berechnen lassen. Für sie muss ein anderes physikalisches Konzept entwickelt werden.

Mit diesem Problem plage ich mich seit über 10 Jahren. Wie weit ich dabei gekommen bin, kann man auf meiner Website nachlesen.

Literatur:

Schrödinger, Erwin (2001): Was ist Leben ? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet, Piper & Co.Verlag, München, Zürich, S. 138.

Kategorie: Allgemein, Erkenntnis, Freier Wille, Kausalismus, Verhaltensbiologie

5 Reaktionen zu “Ein hinderliches Vorurteil der Physik”

  1. Rudi Zimmerman

    Sehr geehrter Herr Litsche,
    vielleicht kann ich Ihnen helfen, das Problem, mit dem Sie sich seit Jahren herumplagen, zu lösen. Erstens halte ich das Konzept “Wille” für falsch und auch das Konzept “Kausalität”. Besser ist das Konzept “Regelkreis”. Dazu vielleicht später mehr.

    Die Verhaltensziele lebender Systeme liegen im Inneren des Systems, nicht in seiner Umgebung. Ziel ist es nicht eine Banane zu essen, sondern den Hunger zu stillen - egal womit (= Aufrechterhaltung der Homöostase des Systeminneren). Ziel ist es nicht, den 100m-Lauf zu gewinnen, sondern das Ziel besteht in dem Erleben eines Glücksgefühls - egal wodurch (deshalb auch die mathematische Unberechenbarkeit). Usw.
    Schauen Sie vielleicht mal auf die Seite:
    http://www.system-erde.de/Das_Verhaltensziel/das_verhaltensziel.html
    Gruß
    Rudi Zimmerman, Webphilosoph

  2. Carsten Thumulla

    Daß jede Bewegungsänderung eine Ursache hat ist kein Paradigma sondern ein Erfahrungssatz, wie die Hauptsätze der Thermodynamik.

    Der Wille kommt indirekt zustande, als Verknüpfung vieler Eingangsgrößen. Wir können uns die Komplexität und die Konsequenzen nur nicht vorstellen. Wille kommt auch nur als Abwägung aller vorstellbaren Konsequenzen zustande.

    Gruß
    Carsten Thumulla

    “Immer weigere ich mich, irgendetwas deswegen für wahr zu halten, weil Sachverständige es lehren, oder auch, weil alle es annehmen. Jede Erkenntnis muß ich mir selbst erarbeiten. Alles muß ich neu durchdenken, von Grund auf, ohne Vorurteile.” A.Einstein

  3. Hagen Schreiber

    Lieber Herr Litsche,

    einige Leseanregungen die mir beim Konsum dieses Beitrags einfielen:

    Kant beschäftigt sich sehr ausführlich mit dem Paradigma der Kausalität. Er erklärt, dass es nicht nur in der Physik als Wissenschaft vorherrscht, sondern unsere gesamte persönliche Erfahrung formt. Er nennt das ‘Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung’

    Schopenhauer ordnet das in der lesenswerten Schrift “Ãœber die Freiheit des menschlichen Willens” als Spezialfall des Satzes vom zureichenden Grunde: Unser Geist kann nur mit Zusammenhängen umgehen, vor einer nichtverursachten Bewegung ’steht er still’. Einen Vorgang verstehen heißt im wesentlichen seine Ursachen zu kennen. Eine Meinung zu verstehen heißt Ihre Gründe zu kennen. Wir können nicht verstehend aus diesem Schema ausbrechen, egal ob das einer möglicherweise objektive Realität gerecht wird oder nicht. mit einer nichtkausalen Welt können wir schlicht nichts anfangen.
    Wir widersprechen uns also zwangsläufig selbst: Wir können die Welt als ganzes nur als Kausalzusammenhang begreifen, aber uns selbst nicht als demselben untergeordnet denken.

    Ein bestechender Gedanke, der mich mit meinem gefühlten freien Willen auch schon länger immer wieder in Staunen versetzt.
    Nietzsche hat sich in Schopenhauers Gefolge übrigens auch gegen den freien Willen ausgesprochen, was mich -nur auf den ersten Blick- überrascht hat.

    Liebe Grüße
    Hagen Schreiber

  4. Christian Bickel

    Bin zufällig auf diesen Text gestoßen.
    Das Kausalgesetz ist eigentlich ein Axiom und entspringt dem Denkgesetz: Von nichts kommt nichts. Der Zufall als sein Gegenpart ist genau genommen eine creatio ex nihilo. Ob es ihn gibt, ist unbeweisbar. Denn es gibt nur eine unmögliche Versuchsanordnung: Man dreht die Zeit zurück und lässt das Ereignis noch einmal ablaufen. Beim Zufall würde es eine Häufigkeitsverteilung der verschiedenen (möglichen?) Ergebnisse geben. Wenn der Ablauf aber immer identisch wäre, spräche das gegen den Zufall und für eine Gesetzmäßigkeit, die dann als Causa bezeichnet würde. Da der Zeitstrahl aber unumkehrbar ist, lässt sich dieser Nachweis nicht führen.

  5. Brandonpaync

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