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Erkenntnis ohne Wahrnehmung

19. August 2009 - 15:23 Uhr

Die bislang radikalste Form, die Realität aus der Erkenntnis zu entfernen, sind die Erkenntnistheorien des der Konstruktivismus. Der Konstruktivismus bestreitet zwar nicht die Existenz einer objektiven, d.h. vom Menschen unabhängigen Realität, er bestreitet aber, dass unsere Wahrnehmung uns ein Bild dieser Realität liefern kann. Mit dieser These wirft der Konstruktivismus nicht nur die Wahrnehmung als Prozess der Erkenntnisgewinnung über Bord, sondern auch den Abbildcharakter der Erkenntnis schlechthin. Erkenntnisse sind im konstruktivistischen keine Abbilder einer von diesen Abbildern unabhängigen Realität, sondern freie Konstrukte des denkenden Subjekts.

Diese Argumentation zeigt, wie verhaftet der Konstruktivismus noch mit der empiristischen Erkenntnistheorie ist. Das Abbild kann nur als auf Wahrnehmung beruhendes Abbild verstanden werden. Die unreflektierte Annahme, Erkenntnis beruht letztlich auf Wahrnehmung, kennzeichnet auch die Diskussion im Blog Arte-Fakten. Es ist das Verdienst des Konstruktivismus nachgewiesen zu haben, dass eine solche Abbildtheorie mit den Ergebnissen der modernen Neurophysiologie unvereinbar ist. Das impliziert aber nicht die Annahme, dass die Erkenntnistheorie grundsätzlich keine Abbildtheorie sein kann. Erkenntnisse müssen nur als Abbilder der Realität aufgefasst werden, die auf andere Weise als durch Wahrnehmung zustande kommen. Mit dieser Annahme entfällt die logische Notwendigkeit, auch die Kategorie der Realität aus der Erkenntnistheorie zu entfernen. Sie erweist sich vielmehr als Denknotwendigkeit, denn ohne die Kategorie der Realität bliebe auch die Kategorie des Abbildes inhaltsleer.

Eine Lösung dieses Problems besteht darin, die Kategorie der Erkenntnis zwar nicht ohne Realität, aber ohne Wahrnehmung zu konstruieren. Erkenntnisse bleiben dann wie im Konstruktivismus freie Konstrukte des Subjekts. Da der Konstruktivismus mit der Wahrnehmung auch die Realität aus der Erkenntnis entfernt hat, fehlt ihm auch das zweite Glied, um die Erkenntnis als Abbildrelation zu konstruieren. Mit der Einbeziehung der Realität als Denknotwendigkeit in den Erkenntnisbegriff ist diese logische Hürde überwunden. Erkenntnis kann nun verstanden werden als freie subjektive Konstruktion von Abbildern der Realität. Abbilder der Realität müssen nicht durch Wahrnehmung entstehen, sie können auch konstruiert werden.

Damit stellt sich die Frage nach der „Zuordnungsvorschrift“, nach der die freien Konstrukte der Realität als deren Abbild zugeordnet werden sollen. Diese Zuordnungsvorschrift kann nicht mehr durch den Wahrnehmungsprozess begründet werden. Der Konstruktivismus bietet zwei Kriterien an, nach denen Konstrukte zu bewerten sind: den Konsens und die Eignung als Orientierungsgrundlege.

Die letztgenannte Bestimmung ist eine der Hilfskonstruktionen, durch die der Realität quasi durch die Hintertür wieder Einlass in die konstruktivistische Erkenntnistheorie verschafft wurde, denn die Notwendigkeit der Orientierung ist nur durch die Annahme einer Realität begründbar, in der sich das Subjekt orientieren muss. In dieser Konstruktion wird auch die Wahrnehmung wieder in die konstruktivistische Theorie eingeführt, denn die Orientierung erfolgt in dieser Sicht weiter über die Sinnesorgane. Auch in diesen Versionen des Konstruktivismus bleibt weiterhin bestritten, dass durch die Orientierung über die Sinnesorgane ein Abbild der Realität entsteht.

In dieser Argumentation macht sich eine weitere Enge der Sichtweise der konstruktivistischen Erkenntnistheorie bemerkbar. Sie kennt keine andere Verbindung zwischen Subjekt und Realität als die Wahrnehmung. Betrachtet man das Subjekt aber als tätiges Subjekt, das sich durch seine Tätigkeit selbst erhält, dann erweist sich die Tätigkeit eine eigenständige und unmittelbare Verbindung zwischen Subjekt und Realität, die keiner Vermittlung durch Sinnesorgane bedarf (wenn sie diese auch zulässt).

Eine erfolgreiche Tätigkeit, durch die sich das Subjekt tatsächlich erhält, begründet eine eindeutige Zuordnungsvorschrift, die das Konstrukt der Realität als deren Abbild (im Sinne eines mathematischen Abbildungsbegriffs) zuordnet. In dieser Sicht ist die Erkenntnis ein konstruiertes Bild für die Realität und nicht mehr wie im Empirismus ein Bild von der Realität, sie ist nicht mehr deren Widerspiegelung.

Bleibt die Frage, wie nun die Wahrnehmung mit der Erkenntnis zusammenhängt. Offensichtlich ist, dass Erkenntnis nie ohne Beteiligung der Wahrnehmung erfolgt, sie erklärt sie nur nicht. Wahrnehmung ist kein Erklärungsprinzip für Erkenntnis, es ist eher umgekehrt. – Aber das ist schon Stoff für einen neuen Beitrag.

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