Kategorie: Tätigkeitstheorie


Ãœber den Erkenntnisbegriff

14. Mai 2012 - 10:11 Uhr

Erkenntnis und Realität

Auch Piaget hat über die Frage nachgedacht, wie Erkenntnistheorie nicht als Philosophie sondern als Objektwissenschaft betrieben werden kann. Er meint, dass Objektwissenschaften sich im Unterschied zur Philosophie u.a. dadurch auszeichnen, dass sie nicht die Erkenntnis als Ganzes untersuchen, sondern einen abgegrenzten Bereich des Erkennens.

„Der Gegenstand der Philosophie ist die Totalität der Wirklichkeit. Sie umfaßt die Realität der Objektwelt. die Realität des Geistes und auch die Beziehungen zwischen diesen beiden Welten. Insofern kann sie über keine spezifischen Methoden verfügen, außer der reflektierenden Analyse. …

Im Gegensatz zur Philosophie steckt sich eine Wissenschaft ein begrenztes Ziel. Eine rechtmäßige Wissenschaftsdisziplin ist sie erst, wenn es ihr gelingt, eine solche Abgrenzung vorzunehmen. Indern sie nach der Lösung spezieller Fragen sucht, erarbeitet sie sich eine oder mehrere spezifische Methoden, die gestatten, neue Fakten zu sammeln und die Interpretationen innerhalb des vorher abgegrenzten Forschungsabschnitts zu koordinieren.“ /1/

Auf diese Weise erreicht eine Wissenschaft im Unterschied zur Philosophie

„..eine gewisse Übereinstimmung der Geister. Sie erreicht aber diese Übereinkunft nur in dem Maße, wie sie begrenzte Probleme löst und wie sie genau definierte Methoden anwendet.“  /2/

Die Abgrenzungen, die Piaget vornimmt bestehen nun darin, nur die wissenschaftliche Erkenntnis zu untersuchen und diese nur im Prozess ihrer Entwicklung. Deshalb bezeichnet er seine Erkenntnistheorie als „genetische Erkenntnistheorie“.

Gegenstand der genetische Erkenntnistheorie ist folglich einerseits die historische Entwicklung einer bestimmten Erkenntnis, beispielsweise des Zahlbegriffs und andererseits die Entwicklung dieser Erkenntnis im Prozess der Entwicklung des individuellen Intellekts.

Dadurch wird die genetische Erkenntnistheorie zu einer wesentlich psychologischen Theorie. Auch die Entwicklung der objektiven wissenschaftlichen Erkenntnis wird als Ergebnis der Entwicklung aufeinanderfolgender individueller Erkenntnisse betrachtet. Die eigenständige Entwicklung einer „objektiven Erkenntnis“ wie sie beispielsweise bei Frege oder Popper dargestellt wird, ist im Rahmen der genetischen Erkenntnistheorie nicht denkbar. Das ist die gewusste und gewollte Folge dieser Begrenzung des Gegenstandes.

Eine andere Folge dieser Begrenzung ist der Verzicht auf die Formulierung eines allgemeinen Begriffs der Erkenntnis.

„Eine Erkenntnistheorie, die Wert darauf legt, selbst wissenschaftlich zu sein, wird sich deshalb hüten, gleich im Anfang zu fragen, was Erkenntnis sei. Auch die Geometrie vermeidet es, a priori zu entscheiden, was der Raum sei, und die Physik verzichtet anfänglich auf die Frage nach der Materie. Sogar die Psychologie nimmt vorerst nicht Stellung zur Natur des Geistes.

Für die Wissenschaften gibt es keine allgemeine Kenntnis, nicht einmal kurzerhand eine wissenschaftliche Erkenntnis. Es existieren vielfache Formen der Erkenntnis, von denen jede eine endlose Reihe von speziellen Problemen aufwirft.“ /3/

Nun ist es aber gerade mein Anliegen, eben einen allgemeinen aber zugleich objektwissenschaftlichen Begriff der Erkenntnis zu entwickeln.

Der philosophische Ansatz der Erkenntnis besteht u.a. darin, die Erkenntnis in Bezug auf die Realität zu definieren, Erkenntnis also als Glied einer zweistelligen Relation aufzufassen, deren zweites Glied die Realität ist.

Der Begriff der Realität wird gewöhnlich mit zwei Merkmalen ausgestattet: Realität ist im Unterschied zum Ideellen, zur Erkenntnis wirklich, und Realität ist unabhängig, unabhängig von menschlicher Tätigkeit und unabhängig von menschlicher Erkenntnis.

Was nicht Realität ist, gibt es in diesem philosophischen Zusammenhang nicht.

Diese Relation verhindert aber jede Begrenzung, sie bildet keinen Rahmen, in dem gedacht werden kann, denn „Realität“ ist ein Begriff, der alles umfasst. Außer der Realität ist nichts. Bleibt man in diesem philosophischen Zusammenhang, muss Erkenntnis als Etwas bestimmt werden, das außerhalb und unabhängig von Realität ist.

Eine Begrenzung ist bei Beibehaltung dieses philosophischen Rahmens nicht machbar, denn bei jeder Begrenzung geht die (philosophische) Allgemeinheit verloren.

Manchmal wird versucht, diese Allgemeinheit durch Zwischenglieder oder weitere Glieder außerhalb dieser Relation auf den Begriff zu bringen. So wird beispielsweise der Begriff des Subjekts als ein solches Glied aufgefasst. Je nach der Rolle des Subjekts in dieser Beziehung erhält die darauf entwickelte Erkenntnistheorie ihren spezifischen „Touch“, durch den erkenntnistheoretische Grundrichtungen wie Empirismus oder Konstruktivismus gekennzeichnet sind.

Der empiristische Standpunkt besagt, dass Erkenntnis die Realität ideell abbildet. Konstruktivistische Standpunkte versuchen einen anderen Rahmen, indem sie dem Begriff der Realität nicht mehr das Merkmal der Unabhängigkeit von der Erkenntnis zuschreiben, sondern Realität als Konstrukt des Erkennens auffassen. Damit wird die dann oft als „Wirklichkeit“ bezeichnete Realität in den Rahmen der Erkenntnis eingeordnet. Die Frage nach einer Entität außerhalb der Erkenntnis ist damit gegenstandslos.

Es muss also versucht werden einen anderen begrifflichen Rahmen zu entwickeln, in dem die Begriffe Realität und Erkenntnis eingeordnet werden können, ohne ihre Allgemeinheit zu verlieren.

Erkenntnis und Wahrnehmung

Auch der Begriff der Erkenntnis umfasst zwei Merkmale, die Wahrnehmung und die daraus entwickelte eigentliche, „theoretische“ Erkenntnis. Während zumindest auch höhere Tiere zur Wahrnehmung befähigt sind, wird das Erkennen meist als nur dem Menschen zukommende Fähigkeit angesehen, die an die Sprache gebunden ist. Soweit die evolutionäre Erkenntnistheorie Erkennen als allgemeine Fähigkeit des Lebens ansieht, reduziert sie Erkennen auf Steuerung des Verhaltens oder auf Wahrnehmung. Damit wird das spezifisch Menschliche aus dem Begriff der Erkenntnis eliminiert und muss später durch Hilfskonstruktionen angefügt werden.

In der konstruktivistischen Erkenntnistheorie existiert das Problem der Beziehung von Erkenntnis und Realität nicht. Folglich gibt es auch kein Wahrheitsproblem. Wahrnehmung und Erkenntnis finden ausschließlich im geistigen Bereich statt, denn beide sind Leistungen des Nervensystems.

Am klarsten kommt das in der Theorie der Wahrnehmungskontrolle von W. Powers zum Ausdruck. Nach Powers besteht das Verhalten nicht darin, Handlungen zu steuern, sondern Wahrnehmungen. Dazu wird im Gehirn eine „Referenz-Wahrnehmung“ erzeugt, mit der die tatsächliche Wahrnehmung verglichen wird. durch die Steuerung der Muskulatur werden Abweichungen des Wahrnehmungssignals vom Referenzsignal ausgeglichen.

Der Charme dieser Auffassung besteht darin, dass sie mit den Ergebnissen der experimentellen Neurologie durchaus vereinbar sind, was für empiristische Auffassungen keineswegs gilt. Und solange erkenntnistheoretisches Denken im Rahmen der Variablen „Wahrnehmung – Erkenntnis“ verharrt, kann man kaum zu wesentlich anderen Auffassungen kommen.

Wenn man sich nur zwischen den Variablen „Wahrnehmung“ und „Erkenntnis“ bewegt, bleibt als Kriterium der Prüfung der Erkenntnis nur die Wahrnehmung, und dass diese dazu ungeeignet ist, wussten schon die alten Griechen.

Es ist ja nicht so, dass zumindest der radikale Konstruktivismus die Existenz einer vom Menschen unabhängigen Realität bestreitet, sie kommt nur im Variablensystem seiner Erkenntnistheorie nicht vor, und deshalb kann Erkenntnis nichts über die Realität aussagen und auch nicht durch Wahrnehmung von Realität geprüft werden.

Andererseits wird die Realität erkennender Subjekte als selbstverständlich vorausgesetzt, nur hat dies nichts mit Wahrnehmung oder Erkenntnis zu tun. Verhalten wird nicht als Beziehung zur Realität aufgefasst, sondern als Steuerung der Wahrnehmung angesehen.

Erkenntnis und Tätigkeit

Die Beziehung des Menschen zur Realität ist aber nicht nur die. Eine umfassende Beziehung des Menschen zur Welt ist die menschliche Tätigkeit. Diese Beziehung ist weiter als die Erkenntnisbeziehung  und deshalb geeignet, einen Rahmen zu bilden, in dem auch die Erkenntnis  ihren Platz findet.

Die Pole des allgemeinen Begriffs der Tätigkeit sind das Subjekt und seine Umwelt. Beide sind Elemente der Realität. Für Tier und andere nichtmenschliche Lebewesen ist die Umwelt immer nur der Teilbereich der Realität, zu dem das Lebewesen eine Beziehung aufnehmen kann. Dieser Teilbereich ist subjektiv, d.h. er wird von der funktionellen Ausstattung des individuellen Subjekts bestimmt. /4/

Für den entwickelten, den gesellschaftlichen Menschen ist das anders. Mittels seiner Kultur und seiner Sprache vermag er in Beziehung zur gesamten Realität zu treten. Er hat Begriffe und Termini auch für das, was er (noch) nicht kennt und (noch) nicht weiß. Die Umwelt des Menschen ist die ganze Welt, die Realität.

Eine weitere Besonderheit der Tätigkeit menschlicher Subjekte ist, dass wesentliche Tätigkeiten arbeitsteilig-kooperativ ausgeführt werden und die konsumierbaren Resultate der Tätigkeit erst in der Tätigkeit gesellschaftlicher Subjekte zustande kommen. Das Individuum kommt erst durch die Verteilung in den Genuss der Resultate seiner Tätigkeit.

Die Steuerung solcher Tätigkeit erfordert andere psychische Bilder als die Tätigkeit tierischer Subjekte. Diesen  genügt die Wahrnehmung. Alle Komponenten und Etappen der individuellen Tätigkeit sind der unmittelbaren Wahrnehmung durch das tätige Individuum zugängig.

Auf diese Tätigkeit trifft zu, was die evolutionäre Erkenntnistheorie meint, wenn sie die Sinnesorgane und Nervensystem als die „Apparate der Erkenntnis“ /5/ beschreibt.

Für die an Sprache und andere gesellschaftliche Darstellungsformen gebundene Erkenntnis des Menschen gilt das nicht mehr. Die Apparate der Erkenntnis sind nicht die Organe des Nervensystems, sondern die sprachlichen und anderen kulturellen Entitäten, mit denen der Mensch seine Erkenntnis darstellt. Die Organe des Nervensystems sind nur die Apparate der Wahrnehmung, nicht aber die der menschlichen Erkenntnis.

Darstellen ist eben nicht wahrnehmen, und Erkenntnis kann nicht auf Wahrnehmung reduziert werden. Darstellungen können auch nicht einfach wahrgenommen werden, wie die Diskussion um die „5. Dimension der Wahrnehmung“ zeigt. Das Verhältnis zwischen Wahrnehmung und (dargestellter, objektiver) Erkenntnis gehört vielmehr zu den grundlegenden Problemen der Theorie menschlichen Erkennens.

Beide gehören in den Bereich der Steuerung der arbeitsteilig-kooperativen Tätigkeit des Menschen. Die Realität hingegen ist ein eigenständiges Glied in der Beziehung des gesellschaftlichen Menschen zu seiner Umwelt. Durch seine Tätigkeit gliedert der Mensch die Realität in sich als Subjekt und seine Umwelt. Der Begriff der Umwelt bildet so die Realität in Bezug auf den Menschen ab.

Die begriffliche Abbildung von Realität und Erkenntnis erfolgt also in unterschiedenen Relationen, die nicht unmittelbar in Beziehung stehen, sondern vermittelt durch die gesellschaftliche, d.h. arbeitsteilig-kooperative Tätigkeit der Menschen.

 

Anmerkungen:

/1/ Piaget, Jean (1975): Die Entwicklung des Erkennens I, Ernst Klett, Stuttgart, S.13,

/2/ Ebenda, S. 14,

/3/ Ebenda, S. 17,

/4/ Auf diesen Zusammenhang hat Uexküll als erster hingewiesen: Uexküll, Jacob von (1928): Theoretische Biologie, Verlag von Julius Springer, Berlin.

/5/ Vgl. z.B. Lorenz, Konrad (1997): Die Rückseite des Spiegels, Piper & Co. Verlag, München, Zürich

 

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Verhalten versus Tätigkeit

27. August 2011 - 09:59 Uhr

In diesem Blog habe ich mehrfach /1/ auch das Problem erörtert, welches Begriffssystem erforderlich wäre, in das die Kategorie des Willens sinnvoll eingeordnet werden kann. In einem kürzlich in der Zeitung Main-Post publizierten Interview äußert sich Prof. M. Heisenberg dazu wie folgt:

„Ich habe immer vermieden, mich über Willensfreiheit auszulassen. Ich kann als Neurobiologe etwas zur Verhaltensfreiheit beitragen. … Verhalten ist grundsätzlich aktiv. (Hervorhebung von mir – G.L.) Der Begriff der Aktivität ist mir sehr wichtig. Aktivität bedeutet, dass das Verhalten im Organismus entstehen kann und dass das Verhalten nicht notwendigerweise eine Antwort auf etwas anderes ist. Also nicht notwendigerweise eine Reaktion. Dass ein Lebewesen „von sich aus“ etwas tut, war in der Wissenschaft lange Zeit umstritten nach dem Motto: Von nichts kommt nichts.“

Dem muss man entgegen halten: Verhalten ist grundsätzlich – per definitionem - nicht aktiv! Das biologische Erklärungsprinzip „Verhalten“ ist dazu angelegt, das kausalistische Paradigma für die Verhaltensbiologie aufzubereiten. Das Begriffspaar „Reiz - Reaktion“ fungiert in der Verhaltensbiologie als Platzhalter für das Begriffspaar „Ursache – Wirkung“. Die Darstellung jedes Verhaltens erfordert so die Angabe seiner Ursache, des auslösenden Reizes. Deshalb ist der Begriff des aktiven Verhaltens eine klassische contradictio in adiecto, mit dem Prädikat „aktiv“ wird dem Verhalten ein Merkmal zugeschrieben, das zuvor in der Definition ausgeschlossen wurde.

Das behavioristische Erklärungsprinzip entstand als die behavioristische Antwort (Watson, Skinner u.a.) auf die tierpsychologische Bearbeitung der tierischen Handlungsweisen. Die Ethologie (Heinroth, Lorenz, Tembrock u.a.) versuchte vor allem mit dem Instinktbegriff die aktive Seite tierischer Handlungsweisen zu artikulieren. Heute fristet die Ethologie ein Schattendasein als Nische in der Verhaltensbiologie. Das wohl auch darum, weil sie versuchte, ihre Ideen in der Terminologie der behavioristischen Verhaltensbiologie zu formulieren und darauf verzichtete, ein grundsätzlich eigenständiges Begriffssystem zu entwickeln. Dem Begriff des aktiven Verhaltens dürfte das gleiche Schicksal bevorstehen.

Das Bedürfnis für die Konstruktion eines Begriffs wie des aktiven Verhaltens entspringt einer Entwicklung der Verhaltensbiologie, wie sie von Kuhn an vielen Beispielen paradigmatisch beschrieben worden ist. Wenn empirische Daten nicht mehr in das herrschende Paradigma passen, werden sie zunächst als „Gegenbeispiele“ abgelegt und, wenn sie sich mehren, durch Hilfskonstruktionen (von Kuhn „ad hoc-Modifizierungen“ /4/ genannt) der bestehenden Theorie angepasst.

Die mit Hilfe der Hilfskonstruktion „aktives Verhalten“ einzuordnenden empirischen Daten wurden von Heisenberg (1983), Brembs u.a (2007) gewonnen. Brembs operiert mit dem Begriff des freien Willens und plädiert (2011) dafür, den Begriff des freien Willens zu einer naturwissenschaftlichen Kategorie zu entwickeln. Dabei schlägt er als begrifflichen Rahmen für dies Kategorie den Begriff „Selbst“ vor. Dazu habe ich bereits gepostet.

Ein begrifflicher Rahmen, dem die Aktivität der Aktionen der Lebewesen immanent ist, ist der Begriff der Tätigkeit. Dieser Begriff wurde von Leont´ev als Erklärungsprinzip für die Aktionen der Lebewesen vorgeschlagen. In diesem Erklärungsprinzip werden die Lebewesen als Subjekte beschrieben. Subjekte sind in diesem Begriffssystem physikalische Konstellationen, die mit den Begriffen und Termini der Thermodynamik beschrieben werden können./7/ Damit wird die Kategorie des Subjekts aus der alleinigen Domäne der Gesellschaftswissenschaften befreit und zu einer naturwissenschaftlich bearbeitbaren Kategorie entwickelt. Zugleich – und darin besteht das Hauptanliegen Leont´evs – ermöglicht sie den begrifflichen und terminologischen Apparat, mit dem die Herausbildung menschlicher Subjekte im Verlauf der Evolution widerspruchsfrei dargestellt werden kann.

Im Unterschied zum biologischen Begriff der Verhaltens ist wird die Tätigkeit per definitionem als aktive Leistung (menschlicher wie nicht menschlicher) Subjekte aufgefasst und braucht nicht als zusätzliches Merkmal hinzugefügt werden. Die Formulierung „aktive Tätigkeit“ wäre ein Pleonasmus.Tätigkeit ist auch per definitionem willentlich. Der Wille entsteht, wenn in der Entstehung des Lebens die verursachte physikalische Wirkung zur biologischen Tätigkeit wird und ist – wie M. Heisenberg ausführt - stammesgeschichtlich ebenso alt, wie die Freiheit des Handelns /8/.

Im Verlauf dieser Entwicklung hat die „Wille“ zu nennende Eigenschaft der Lebewesen mannigfache Veränderungen erfahren und ist in den verschiedensten Ausprägungen anzutreffen, für die geeignete Begriffe und Termini erst noch zu entwickeln sind.

Um Lebewesen als Subjekte zu verstehen, muss die Biologie also ihre grundlegenden Erklärungsprinzipien ändern. „Tätigkeit“ ist nicht nur das Erklärungsprinzip für das, was man heute „Verhalten“ nennt, sondern beispielsweise auch für das, was man „Stoffwechsel“ nennt. Das auszuführen, würde hier aber zu weit führen. Anmerkungen:

/1/ Subjekt und Instinkt II, Der freie Wille und die Physik, Haben Tiere Bewusstsein?, Wenn die Fliege aber keine Lust hat…

/2/ Die Freiheit der Fruchtfliege, Interview mit M. Heisenberg in der Main-Post vom 31.7.2011

/3/ Kuhn, Thomas S. (1973): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S. 91)

/4/ Heisenberg, Martin (1983): Initiale Aktivität und Willkürverhalten bei Tieren, Naturwissenschaften, S. 70 bis 78

/5/ Brembs. B. u.a.(2007) Order in Spontaneous Behavior. PLoS ONE 2(5): e443. doi:10.1371.

/6/ Brembs, B. (2011) Towards a scientific concept of Free Will as a biological trait: spontaneous actions and decision-making in invertebrates Proc. R. Soc. B 22 March 2011 vol. 278 no. 1707 930-939

/7/ Mit der weiteren Ausarbeitung der physikalischen Eigenschaften des Subjektbegriffs habe ich mich auf meiner Website z.B. hier befasst.

/8/ Wörtlich sagt er, „dass ein Individuum frei ist, so oder so zu handeln, und dass die Zukunft offen ist. Für mich war einer der Leitgedanken: Wenn wir diese Freiheit haben, muss sie in der Evolution entstanden sein, muss es eine Naturgeschichte dazu geben. Und etwas so Grundsätzliches sollte – stammesgeschichtlich betrachtet – sehr alt sein.“

 

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Die ideologischen Fesseln der Tätigkeitstheorie

9. Februar 2011 - 17:04 Uhr

Die Tätigkeitstheorie ist seit ihrer Konstituierung vor inzwischen fast 100 Jahren ein umfassendes wissenschaftliches Konzept mit großer internationaler Ausstrahlung geworden.

Führende Köpfe der Entwicklung dieser Theorie waren u.a. Vygotsky, Leont´ev und Luria. Sie werden auch heute nicht nur immer angeführt, sondern ihre grundlegenden Begriffe und theoretischen Auffassungen werden noch immer unmittelbar genutzt, wenn es gilt, die kulturhistorische Schule und die Tätigkeitstheorie zur methodischen Gestaltung neuer Untersuchungen zu nutzen. Für mich ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass es seit der Entstehung dieses Konzepts keine verbreitete Weiterentwicklung ihrer theoretischen Grundlagen gegeben hat. Außer meinen Versuchen ist mir nur noch der Ansatz Engeströms bekannt.

Ein Grund dafür scheint mir der Umstand zu sein, dass die Tätigkeitstheorie weithin als i.e.S. psychologische Theorie aufgefasst und betrieben wird. Dadurch werden der Tätigkeit als ihrer grundlegenden Kategorie Merkmale zugeschrieben, die nur der Tätigkeit solcher Subjekte zukommen, die mit Psyche ausgestattetet sind. Eine weitere Verengung der Tätigkeitstheorie resultiert daraus, dass die Psyche ausschließlich oder überwiegend als menschliche Psyche betrachtet wird, wodurch meist nur die menschliche Tätigkeit gemeint ist, auch wenn der Terminus „Tätigkeit“ in seiner allgemeinen Form benutzt wird. Man meint nicht, was man sagt.

Dieses Problem ließe sich durch einen breiten terminologischen Konsens lösen. Bei einem anderen Problem ist das nicht mehr der Fall. Dieses ergibt sich daraus, dass die Tätigkeitstheorie auf dem Konsens entwickelt wurde, den Marxismus als philosophisch-weltanschauliche Grundlage der psychologischen Theorie zu betrachten. Dadurch erhielt die Tätigkeitstheorie eine ideologische Ausrichtung.

Dabei verschwand der Umstand aus dem Fokus des Denkens, dass Erkenntnistheorie (jedenfalls in ihrer marxistischen Auffassung) einen anderen Gegenstand hatte als die primär psychologisch orientierte Tätigkeitstheorie. Die marxistische Erkenntnistheorie hat zu ihrem Gegenstand die Erkenntnis als gesellschaftliche Erkenntnis, die Erkenntnis der Gesellschaft als Gesamtsubjekt, während der native Gegenstand der Psychologie die individuelle Erkenntnis ist, das Erkennen des individuellen Subjekts. Die undifferenzierte Übertragung von Eigenschaften von einem Gegenstand auf den anderen führt nicht selten zu Fehlern und logischen Widersprüchen.

In der Tätigkeitstheorie geschieht das, indem die These übernommen wird, das Psychischesei die Widerspiegelung der Realität.

Die Orientierung am Marxismus führte folgerichtig dazu, das Psychische, d.h. das Individuelle als Widerspiegelung der Realität auszufassen, dem Psychischen wird Abbildcharakter zugeschrieben. In diesem ideologischen Rahmen sind jedoch – und das nicht nur in der Psychologie -  nur empiristische Auffassungen über Erkenntnis möglich. Konstruktivistische Auffassungen sind mit der Widerspiegelungstheorie logisch unvereinbar.

Andererseits ist die Kategorie der Praxis  eine weitere tragende Komponente der marxistischen Erkenntnistheorie. „Praxis“ ist im Marxismus nur als gesellschaftliche Kategorie denkbar, nicht aber als individuelle. Zum anderen ist diese  Kategorie ist zutiefst konstruktivistisch, betont sie doch das Primat des Subjekts, wie es ganz prägnant in der ersten Feuerbachthese zum Ausdruck kommt. Auch das Sinnliche hat bei Marx und Engels keinen sensualistischen Charakter, wie das in der Psychologie gewöhnlich üblich ist.

Nun ist die Kategorie der Tätigkeit wie die der Praxis nur konstruktivistisch denkbar, als Kategorie, in der ein autonomes Subjekt seine Tätigkeit aktiv gestaltet und seine Bedürfnisse befriedigt. Nicht die Einwirkungen der Umwelt bestimmen und gestalten die Tätigkeit, sondern das autonome Subjekt. (Tätigkeit ist nicht als Reaktion auf physikalische oder chemische „Reize“ verstehbar. Dieser Standpunkt wird neuerdings auch von Neurophysiologen z.B. Björn Brembs vertreten).

Zur Zeit der Entstehung der Tätigkeitstheorie war der Konstruktivismus aber noch weit von seiner Etablierung als ernsthaftes erkenntnis- und wissenschaftstheoretisches Konzept entfernt. Die Auffassungen ihrer Vorläufer (Mach u.a.) waren von Lenin in „Materialismus und Empiriokritizismus“ vom Standpunkt des Marxismus als „feindlich“ charakterisiert worden und fielen so unter das ideologische Verdikt.

Die Psychologie der Tätigkeitstheorie versuchte, diesen Widerspruch durch verschiedene Hilfkonstruktionen zu lösen, durch die sie der Widerspiegelung einen aktiven, schöpferischen Charakter zuschrieb, ein subjektives Moment. Damit aber implementierte sie die Widersprüche ihrer philosophischen Grundlage in ihre Wissenschaft.

Das gilt auch für den Ansatz Rubinsteins, der in den Prozess der Widerspiegelung eine subjektive Brechung implementierte. Anochin dagegen entwickelte die Hilfskonstruktion der „vorgreifenden Widerspiegelung“. Das Widerspiegelungskonzept prinzipiell als Konzept des Psychischen aufzugeben wurde nur von Vygotsky  in der „Krise der Psychologie“ versucht.

Man kann einem Begriff nicht nachträglich Eigenschaften zuschreiben, die zuvor per definitionem ausgeschlossen worden sind, ohne sich in unlösbare Widersprüche zu verwickeln. Vygotsky hat das bereits vor über 80 Jahren in seiner „Krise der Psychologie“ dargelegt. Er schreibt:

„Die Psychologie möchte eine Naturwissenschaft von nichtnatürlichen Erscheinungen sein. Mit der Naturwis­senschaft verbindet sie ein rein negativer Zug, die Ablehnung der Metaphysik, jedoch nicht ein einziger positiver.“ (S190)

Und weiter:

 „Der Begriff empirische Psychologie enthält folglich einen unlösbaren methodologischen Widerspruch: Es handelt sich hier um eine Naturwissenschaft von nichtnatürlichen Dingen, um die Tendenz, mit der Methode der Naturwissenschaften ein ihnen polar entgegengesetztes Wissenssystem zu entwickeln, das aus polar entgegengesetzten Prämissen hervorgeht. Eben das wirkte sich verderblich auf die methodologische Konstruktion der empirischen Psychologie aus und brach ihr das Genick.“ (S.192) Dieser Widerspruch ist auch in der philosophischen Grundlage der Tätigkeitstheorie verankert und verhindert bis heute ihre Weiterentwicklung als Theorie. 

In einer seiner letzten Arbeiten stellt Leont´ev (1975) dazu fest:

„Und bezeichnend ist, wie die maßgebendsten Autoren eingestehen, daß es derzeit keine überzeu­gende allgemeine Theorie der Wahrnehmung gibt, die geeignet wäre, die angehäuften Kenntnisse zu erfassen und ein konzeptuelles System zu entwerfen, das den Forderungen der dialektisch-materialistischen Methodologie entspricht. … Im Ergebnis triumphiert in Ãœbersichtsarbeiten, die für sich in An­spruch nehmen, das Problem umfassend zu behandeln, offene Eklek­tik.“  (Leont´ev 1981, S.6)

Dass diese Beschreibung auch heute noch und nicht nur für marxistisch orientierte Psychologien zutrifft, kann  man einer „Standortbestimmung“ entnehmen, die von einer Reihe führender deutscher Psychologen 2005 publiziert wurde.

Leont´ev hat erst in seinen letzten Arbeiten zur Wahrnehmung konstruktivistische Ansätze entwickelt, ohne sich jedoch  jedoch prinzipiell mit deren  philosophischen Aspekten auseinanderzusetzen. So verharrt die Tätigkeitstheorie dreifach gefesselt:

·         Sie wird überwiegend als psychologische Theorie betrachtet und durch die Auffassung der Psychologie als Naturwissenschaft in deren Paradigmensystem gezwängt.

·         Zu dieser Auffassung wird sie durch ihre ideologische Bindung an den Marxismus gedrängt, wobei sie unkritisch Erkenntnis der Gesellschaft als Ganzes und individuelle Erkenntnis methodisch identifiziert. Das verhindert, dass das Individuum in seiner spezifischen individuellen Qualität gefasst wird.

·         Das Postulat, das Psychische als Widerspiegelung aufzufassen verhindert, dass konstruktivistische Gedanken aufgegriffen werden, ein Denkverbot, das durch die leninistische Fassung dieses Begriffs verschärft wurde.

·         Schließlich ist der marxistische Begriff der gesellschaftlichen Erkenntnis nicht auf die Psyche anwendbar, Psyche ist nativ individuell.

Zum Schluss noch eine persönliche Anmerkung: Meine wissenschaftliche Entwicklung vollzog sich im Paradigma der marxistischen Erkenntnistheorie. Es war nicht leicht, sich von diesen philosophischen Voraussetzungen zu befreien und zu erkennen, dass sie im wissenschaftlichen Denken zu Fesseln geworden waren – so wichtig sie auch im täglichen Leben sein mögen.

 Literatur: 

Psychologie im 21. Jahrhundert – eine Standortbestimmung. Gehirn & Geist, Heft 7-8/2005, S. 56-60,

Anochin, Pjtor Kusmitsch (1978): Beiträge zur allgemeinen Theorie des funktionellen Systems, Gustav Fischer Verlag, Jena,

Brembs, Björn (2010): Towards a scientific concept of Free Will as a biological trait: spontaneous actions and decision-making in invertebrates. Proceedings of the Royal Society B,

Engeström, Yrjö (1999): Lernen durch Expansion, BdWi-Verlag, Marburg,

Holzkamp, Klaus (1983): Grundlegung der Psychologie, Campus Verlag, Frankfurt-New York (S. 68ff.)

Lenin, W. I. (1947): Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie. Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau,

Leontjew, Alexej (1975): Psychologie des Abbilds. In Forum Kritische Psychologie 9 (1981), Seiten 5 bis 19,

Vygotskij, Lev, S. (2003): Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung. In Ausgewählte Schriften Band I, Seiten 57 bis 278,

Wittich, Dieter; Gößler, Klaus; Wagner, Kurt (1980): Marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin.

 Die erste Feuerbachthese:

„Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus - den Feuerbachschen mit eingerechnet - ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher geschah es, daß die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus, vom Idealismus entwickelt wurde - aber nur abstrakt, da der Idealismus natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt. Feuerbach will sinnliche, von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedene Objekte; aber er faßt die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit. Er betrachtet daher im “Wesen des Christenthums” nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche, während die Praxis nur in ihrer schmutzig-jüdischen Erscheinungsform gefaßt und fixiert wird. Er begreift daher nicht die Bedeutung der “revolutionären”, der praktisch-kritischen Tätigkeit.“ (Marx-Engels Werke, Band 3, Seite 533 ff. Dietz Verlag Berlin, 1969)

 

 

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Erkennen durch Wahrnehmung

29. September 2009 - 09:57 Uhr

Im vorigen Beitrag habe ich gezeigt, dass die Kategorie Erkenntnis auch ohne die Kategorie der Wahrnehmung konstruiert werden kann, wenn die Kategorie der Tätigkeit zugrunde gelegt wird. Die vom Subjekt konstruierten psychischen Abbilder werden in diesem Konstrukt nicht durch Wahrnehmung mit der Realität verbunden, sondern durch die Tätigkeit. Die Tätigkeit der Subjekte wird mittels der konstruierten psychischen Abbilder gesteuert, die durch den Erfolg der Tätigkeit verifiziert werden.

Man kann sich vorstellen, eine Bewegung auch durch Töne, beispielsweise eine Melodie zu steuern. Man singt ein Lied und führt an bestimmten Stellen der Melodie bestimmte Richtungswechsel durch. So kann man ein Ziel auch mit geschlossenen Augen erreichen, ohne Wahrnehmung der Umwelt. Die Information zur Steuerung der Bewegung erhält die Melodie durch das Subjekt. – Die australischen Aborigines steuern auf diese Weise durch “Songlines“ ihre mehrere Tausend Kilometer langen Märsche durch ihr Land. Muster, die zur Steuerung geeignet sind, müssen nur eine „Melodie“, eine „Gestalt“ haben. Auch Würfeln liefert ein Muster, das aber hat keine Gestalt und kann deshalb nicht gerichtet steuern.

Diese Konstruktion erfordert die Annahme einer physikalischen Realität. Zum einen werden Subjekte als materielle, stofflich-energetische Systeme unterstellt. Es gibt also reale Subjekte. Diese Subjekte agieren. Dazu brauchen sie einen stofflich-energetischen Input, d.h., Subjekte können nur in einer stofflich-energetischen Umwelt existieren, in der sie einen stofflich-energetischen Input generieren, der ihre Erhaltung gewährleistet. Diese Umwelt muss ebenso real sein wie das Subjekt selbst.

Solange das Subjekt nicht einer funktionellen Komponente zur Wahrnehmung ausgestattet ist, entfällt auch die Notwendigkeit, eine gesonderte informationelle Beziehung zwischen dem konstruierten psychischen Bild und der Umwelt auszuarbeiten. Die Beziehung Subjekt-Umwelt ist rein stofflich-energetisch und wird durch die Tätigkeit realisiert. Das befriedigte Bedürfnis bestätigt, dass das subjektive Konstrukt ein zutreffendes Bild der Realität war, Wahrnehmung ist (noch) nicht erforderlich.

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  Schema 1: Stofflich-energetische Steuerung der Tätigkeit durch den Erfolg (die Outputs sind autonome Leistungen des Subjekts)

Die organische Welt besteht zum größten Teil aus Lebewesen, die zwar tätig sind, und das erfolgreich, ohne über funktionelle Komponenten zu verfügen, die sie zur Wahrnehmung befähigen würden. Ihre Bilder der Realität sind keine psychischen Entitäten, sondern basieren beispielsweise auf chemischer (z.B. hormoneller) Basis. Nur Lebewesen, die mit einem neuronalen System ausgestattet sind besitzen auch eine Psyche und können psychische Bilder erzeugen. Nur diese sind auch mit Sinnesorganen und der Fähigkeit der Wahrnehmung ausgestattet. Das Leben bringt Psyche und Wahrnehmung also erst auf einer bestimmten Stufe der Evolution hervor.

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Schema 2: Informationelle Steuerung (der informationelle Output des Signalgebers wird auf die Steuerkomponente übertragen und von dieser zum psychischen Bild und zur informationellen Output verrechnet)

Im Unterschied zur Tätigkeit ist die Wahrnehmung keine stofflich-energetische Beziehung des Subjekts zur Realität, sondern eine informationelle. Bei der Wahrnehmung nehmen die Subjekte weder Substanz noch Energie auf, sondern Informationen. Diese sind nicht durch stoffliche oder energetische Parameter gekennzeichnet. Deshalb können sie auch keine Beziehung des Subjekts zu einer stofflich-energetischen Realität abbilden. Da die Mainstreamerkenntnistheorie nicht auf der Tätigkeit, der stofflich-energetischen Beziehung des Subjekt zur Realität, aufbaut, sondern nur von der Wahrnehmung ausgeht, kann sie keine Beziehung zwischen psychischen Bildern und Realität erkennen. In dieser Sicht wird die Tätigkeit infolge des fehlenden Ergebnisses auf eine ziellose Bewegung reduziert, die keinen Sinn hat.

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Schema 3: Wahrnehmung ohne stofflich-energetischen Input - konstruktivistische Variante

Ohne eine auf den Erfolg – die Selbsterhaltung des Subjekts – gerichtete Tätigkeit kann es keine Bewertung der Informationen geben die das Subjekt erzeugt. Das ist auch dann nicht der Fall, wenn man ein empiristisches Wahrnehmungskonzept annimmt.

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Schema 4: Wahrnehmung ohne stofflich-energetischen Input - empiristische Variante

Erst wenn die Tätigkeit als materielle Aktion von Subjekt in das Modell der Wahrnehmung einbezogen wird, kann die Umwelt nicht mehr nur, nicht mehr ausschließlich als gedankliches Konstrukt gedacht werden. Der vom Sensor erzeugte Input aus der Umwelt erhält seinen informationellen Gehalt ebenfalls aus dem Erfolg der materiellen Tätigkeit. Der Umweltinput auf den Sensor enthält ebenso wenig Information wir der stofflich-energetische Input. Information erhält er erst, indem das Subjekt den Erfolg der Tätigkeit bewertet, die durch diesen Input gesteuert wird,

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Schema 5: Steuerung der Tätigkeit durch Wahrnehmung mit stofflich-energetischen Input - tätigkeitsttheoretische Variante

Das tätigkeitstheoretische  Konzept der Wahrnehmung erhält zwar das konstruktivistische Moment, erhält aber zugleich die Verbindung zur Realität. Vom empiristischen Konzept übernimmt es die Auffassung, dass die Realität Information trägt, sieht diese aber nicht als “objektiv”, unabhängig vom Subjekt, sondern als subjektive, vom Subjekt erzeugte Eigenschaft der Realität.

Ich denke, dass man sich von der Idee verabschieden muss, die Realität enthielte objektive Informationen, die vom Subjekt „aufgenommen“ würde. Erst das Subjekt verleiht der Realität die Information, „objektive“ Information, Information ohne Subjekt ist ein Widerspruch in sich. Bei der Wahrnehmung nimmt das Subjekt Information nicht auf, sondern erzeugt sie und „moduliert“ sie der Umwelt auf. Durch den Erfolg der Tätigkeit bewertet das Subjekt die Information.

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Erkenntnis ohne Wahrnehmung

19. August 2009 - 15:23 Uhr

Die bislang radikalste Form, die Realität aus der Erkenntnis zu entfernen, sind die Erkenntnistheorien des der Konstruktivismus. Der Konstruktivismus bestreitet zwar nicht die Existenz einer objektiven, d.h. vom Menschen unabhängigen Realität, er bestreitet aber, dass unsere Wahrnehmung uns ein Bild dieser Realität liefern kann. Mit dieser These wirft der Konstruktivismus nicht nur die Wahrnehmung als Prozess der Erkenntnisgewinnung über Bord, sondern auch den Abbildcharakter der Erkenntnis schlechthin. Erkenntnisse sind im konstruktivistischen keine Abbilder einer von diesen Abbildern unabhängigen Realität, sondern freie Konstrukte des denkenden Subjekts.

Diese Argumentation zeigt, wie verhaftet der Konstruktivismus noch mit der empiristischen Erkenntnistheorie ist. Das Abbild kann nur als auf Wahrnehmung beruhendes Abbild verstanden werden. Die unreflektierte Annahme, Erkenntnis beruht letztlich auf Wahrnehmung, kennzeichnet auch die Diskussion im Blog Arte-Fakten. Es ist das Verdienst des Konstruktivismus nachgewiesen zu haben, dass eine solche Abbildtheorie mit den Ergebnissen der modernen Neurophysiologie unvereinbar ist. Das impliziert aber nicht die Annahme, dass die Erkenntnistheorie grundsätzlich keine Abbildtheorie sein kann. Erkenntnisse müssen nur als Abbilder der Realität aufgefasst werden, die auf andere Weise als durch Wahrnehmung zustande kommen. Mit dieser Annahme entfällt die logische Notwendigkeit, auch die Kategorie der Realität aus der Erkenntnistheorie zu entfernen. Sie erweist sich vielmehr als Denknotwendigkeit, denn ohne die Kategorie der Realität bliebe auch die Kategorie des Abbildes inhaltsleer.

Eine Lösung dieses Problems besteht darin, die Kategorie der Erkenntnis zwar nicht ohne Realität, aber ohne Wahrnehmung zu konstruieren. Erkenntnisse bleiben dann wie im Konstruktivismus freie Konstrukte des Subjekts. Da der Konstruktivismus mit der Wahrnehmung auch die Realität aus der Erkenntnis entfernt hat, fehlt ihm auch das zweite Glied, um die Erkenntnis als Abbildrelation zu konstruieren. Mit der Einbeziehung der Realität als Denknotwendigkeit in den Erkenntnisbegriff ist diese logische Hürde überwunden. Erkenntnis kann nun verstanden werden als freie subjektive Konstruktion von Abbildern der Realität. Abbilder der Realität müssen nicht durch Wahrnehmung entstehen, sie können auch konstruiert werden.

Damit stellt sich die Frage nach der „Zuordnungsvorschrift“, nach der die freien Konstrukte der Realität als deren Abbild zugeordnet werden sollen. Diese Zuordnungsvorschrift kann nicht mehr durch den Wahrnehmungsprozess begründet werden. Der Konstruktivismus bietet zwei Kriterien an, nach denen Konstrukte zu bewerten sind: den Konsens und die Eignung als Orientierungsgrundlege.

Die letztgenannte Bestimmung ist eine der Hilfskonstruktionen, durch die der Realität quasi durch die Hintertür wieder Einlass in die konstruktivistische Erkenntnistheorie verschafft wurde, denn die Notwendigkeit der Orientierung ist nur durch die Annahme einer Realität begründbar, in der sich das Subjekt orientieren muss. In dieser Konstruktion wird auch die Wahrnehmung wieder in die konstruktivistische Theorie eingeführt, denn die Orientierung erfolgt in dieser Sicht weiter über die Sinnesorgane. Auch in diesen Versionen des Konstruktivismus bleibt weiterhin bestritten, dass durch die Orientierung über die Sinnesorgane ein Abbild der Realität entsteht.

In dieser Argumentation macht sich eine weitere Enge der Sichtweise der konstruktivistischen Erkenntnistheorie bemerkbar. Sie kennt keine andere Verbindung zwischen Subjekt und Realität als die Wahrnehmung. Betrachtet man das Subjekt aber als tätiges Subjekt, das sich durch seine Tätigkeit selbst erhält, dann erweist sich die Tätigkeit eine eigenständige und unmittelbare Verbindung zwischen Subjekt und Realität, die keiner Vermittlung durch Sinnesorgane bedarf (wenn sie diese auch zulässt).

Eine erfolgreiche Tätigkeit, durch die sich das Subjekt tatsächlich erhält, begründet eine eindeutige Zuordnungsvorschrift, die das Konstrukt der Realität als deren Abbild (im Sinne eines mathematischen Abbildungsbegriffs) zuordnet. In dieser Sicht ist die Erkenntnis ein konstruiertes Bild für die Realität und nicht mehr wie im Empirismus ein Bild von der Realität, sie ist nicht mehr deren Widerspiegelung.

Bleibt die Frage, wie nun die Wahrnehmung mit der Erkenntnis zusammenhängt. Offensichtlich ist, dass Erkenntnis nie ohne Beteiligung der Wahrnehmung erfolgt, sie erklärt sie nur nicht. Wahrnehmung ist kein Erklärungsprinzip für Erkenntnis, es ist eher umgekehrt. – Aber das ist schon Stoff für einen neuen Beitrag.

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Wozu ist Schule da?

22. Februar 2009 - 10:46 Uhr

Cartoon 

Hans Traxler, Chancengleichheit, in: Michael Klant , [Hrsg.] , Schul-Spott : Karikaturen aus 2500 Jahren Pädagogik ,Fackelträger, Hannover 1983, S. 25

In ihrem Blogbeitrag „Gedanken zum individualisierten Unterrichten“ erörtert lisarosa Probleme der Gleichheit und Gerechtigkeit in den Anforderungen an die Schüler.

Das Bild suggeriert die Vorstellung, dass alle Menschen verschieden sind und deshalb ebenso wenig mit dem gleichen Maß zu messen seien wie die dargestellten Tiere. Dabei wird das individualistische Verständnis des Menschen auf die Betrachtung der Tiere übertragen. In diesem Verständnis wird unterstellt, dass die verschiedenen Tierarten ein ebenso solipsistisches Dasein fristen, wie es das Bild vom freien, individuellen Menschen vorgibt: Jeder ist seines Glückes Schmied.

Aber die einzelnen Arten der Lebewesen existieren nicht nebeneinander und unabhängig voneinander. Das Leben auf der Erde funktioniert nur als Lebensgemeinschaft, als Biozönose, in der die Verschiedenheit der Einzelnen die Bedingung für die Existenz des Ganzen ist. Löwen können nicht nur nicht ohne Gazellen leben, sondern Gazellen auch nicht ohne Löwen. Deshalb sind Löwen auch nicht den Auslesebedingungen für Gazellen unterworfen und umgekehrt.

Im Unterschied zu den Tieren ist die Verschiedenheit der Menschen jedoch nicht in ihren biologischen Unterschieden begründet, sondern sozialer Natur, denn sie ist in der Arbeitsteilung begründet. Jeder Mensch erfüllt eine spezifische Funktion, der Bäcker bäckt Brot und der Rechtsanwalt schützt Steuersünder von dem Gefängnis. Nur alle zusammen ermöglich die Existenz der jeweiligen Gesellschaft.

Die Vorbereitung auf eine Funktion kann aber nicht Aufgabe der allgemeinbildenden Schule sein. Hier müssen offensichtlich alle dasselbe Lernen, ob sie darin einen persönlichen Sinn sehen oder nicht. In diesem Umstand sind alle Probleme begründet, die heute von „der Schule“ zu lösen sind und die die aktuelle Diskussion um „die Schule“ bestimmen. Im von lisarosa erörterten Zusammenhang möchte ich wenigstens auf folgende hinweisen:

1.     Wie verstehen wir die Gleichheit der Schüler? In Deutschland (und wenigen anderen Ländern) scheint es mindestens drei „Sorten“ von Schülern zu geben, für die drei Schultypen erforderlich sind, Hauptschule, Realschule und Gymnasium. In anderen Ländern wie Finnland oder Schweden gibt es offensichtlich nur eine „Sorte“, denn sie leben mit der Einheitsschule für alle Kinder. Wenn (oder wo) alle Kinder „von Natur aus“ gleich sind, können sie auch in die gleiche Schule gehen.

2.     Unterschiedliche Schulen haben unterschiedliche Funktionen. Gymnasien haben die Funktion, Kinder auf die Hochschule vorzubereiten. Gymnasiasten sollen auf die Universität, Hauptschüler sollen einen praktischen Beruf erlernen. Für beide muss es unterschiedliche Kriterien geben. Elefanten und Robben gehören nicht in die gleiche Schule.

3.     Wenn das dreigliedrige Schulsystem aufgegeben werden soll, dann muss die Einheitsschule alle Schüler auf ein Hochschulstudium vorbereiten. Dazu – so die Befürworter des gegliederten Schulsystems – sind in Deutschland nicht alle Kinder geeignet. In Finnland oder Schweden sind sie es, und in der DDR waren sie es auch. Die Hochschulvorbereitung, auf die alle Kinder vorbereitet werden, schließt sich an die Einheitsschule an. Das „Gymnasium“ existiert nicht neben der Einheitsschule, sondern danach. Für alle sind die Kriterien gleich. Das Gymnasium wird nicht abgeschafft, sondern zur Einheitsschule für alle. Anders ist die Einheitsschule nicht denkbar.

4.     So stellt sich die Frage des persönlichen Sinns wieder anders. Welchen persönlichen Sinn soll ein Hauptschüler in einer Gesellschaft entwickeln, die ihm kaum eine berufliche und noch weniger eine universitäre Perspektive bietet? Ob „Yes we can“ das leistet? Der persönliche Sinn kann sich nur auf der Grundlege der gesellschaftlichen Bedeutung entwickeln, die eine Gesellschaft dem Einzelnen zuweist.

Zurück zum Bild: Wenn die Tiere wüssten, welche Funktion sie im Naturganzen haben, könnten sie ihren persönlichen Sinn finden. So aber leben sie sinnlos still vor sich hin.

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Subjekt und Instinkt III: Tätigkeitstheorie

5. September 2008 - 15:15 Uhr

Während im westlichen Europa die Auseinandersetzung mit der kausalistischen Biologie in der Verhaltensbiologie und der Neurophysiologie geführt wurde, ging man in der Sowjetunion das Problem auch von Seiten der Psychologie an.

Wie in der Biologie erstarkte auch in der Psychologie die behavioristisch orientierte Richtung, welche die Psychologie mit den Methoden der kausalistischen Naturwissenschaften betrieb. Vygotskij hat das in seiner „Krise der Psychologie“ umfassend analysiert, und  seine Analyse hat bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren.

Leont´ev ging das Problem der Psyche von Seiten der Biologie an. Obwohl „gelernter Psychologe“ legte er seinen Überlegungen eine umfangreiche Recherche der Verhaltensbiologie seiner Zeit zugrunde/1/. Leont´ev ging davon aus, dass das Psychische eine spezifische Eigenschaft des Lebendigen ist. Diese Bestimmung war natürlich nicht innerhalb einer Biologie möglich, die das Leben kausalistisch auffasste. Im klassisch-physikalischen Denkrahmen von Ursache und Wirkung ist das Psychische auch nicht als biotische Eigenschaft unterzubringen. Auch Leont´ev musste den kausalistischen Denkrahmen verlassen.

Dazu entwickelte er zunächst seine Vorstellung vom Lebendigen.

 „In der anorganischen Welt stehen die an der Wechselwirkung beteiligten Körper in prinzipiell gleichem Verhältnis zueinander. Das Verhältnis des lebenden Körpers wandelt sich dagegen auf der Stufe des organischen Lebens. Der organische Körper verändert sich, indem er sich selbst erhält, wächst und vermehrt; es handelt sich bei ihm um einen aktiven Prozeß. Der unbelebte Körper dagegen wird durch äußere Einwirkungen verändert. Dieser Sachverhalt läßt sich auch anders ausdrücken: Der Ãœbergang von den Formen der Wechselwirkung, die der anorganischen Welt eigen sind, zu Formen, wie sie für die lebende Materie typisch sind, findet seinen Ausdruck in der Tatsache, daß einerseits ein Subjekt und andererseits ein Objekt der Einwirkung hervorgehoben werden kann.“ (S. 26)„Man kann deshalb das Sein eines Lebewesens nicht nur objektiv, als einen passiven, wenn auch einen fühlenden Prozeß betrachten, sondern muß es unter dem Gesichtspunkt eines sein Leben erhaltenden Subjekts sehen.“ (S.27)„Wir werden die spezifischen Prozesse, die ein Lebewesen vollzieht und in denen sich die aktive Beziehung des Subjekts zur Wirklichkeit äußert, von anderen Vorgängen abgrenzen und als Prozesse der Tätigkeit bezeichnen…. Die grundlegende „Einheit“ des Lebensprozesses ist die Tätigkeit des Organismus“( Leont´ev, S. 29) 

Anstelle der Kategorie der Kausalität benutzt Leont´ev die der Wechselwirkung und mit den Begriffen „Subjekt“ und „Tätigkeit“ erfasst er die aktive Seite des Lebens als einer Komponente dieser Wechselwirkung, die den Aspekt des Unabhängigen der Aktionen der Lebewesen abbildete, also das, was beispielsweise Lorenz u.a. mit dem Terminus „Instinkt“ bezeichneten. Auch damit  musste er den Rahmen naturwissenschaftlichen Denkens nicht verlassen. Mit dem Begriff der Tätigkeit erfasste Leont´ev mehr die Antriebsseite der Aktionen, während die deutsche Ethologie um Lorenz /2/ mehr die Unabhängigkeit der Ausführung der Aktionen von äußeren Einwirkungen im Auge hatte.

 Wir haben es nie zu bereuen gehabt, daß wir die Veränderlichkeit der Instinkthandlung durch Erfahrung rundweg geleugnet haben und folgerichtig den Instinkt wie ein Organ behandelt haben, dessen individuelle Variationsbreite bei allgemeiner biologischer Beschreibung einer Art vernachlässigt werden kann. Diese Auffassung widerspricht nicht der Tatsache, daß manchen Instinkthandlungen eine hohe regulative „Plastizität“ zukommen kann. (S.273)Wenn man nicht den Begriff des Lernens ganz ungeheuer weit fasst, so daß man etwa auch sagen kann, die Arbeitshypertrophie eines vielbenützten Muskels sei ein Lernvorgang, so hat man durchaus kein Recht, die Beeinflussung des Instinktes durch Erfahrung zu behaupten. (Lorenz S. 274) 

Zugleich wird die Unterschiedlichkeit des Herangehens durch die jeweils unterschiedlicher „berufliche Brille“ beider bedingt. Lorenz richtet seinen Blick als Biologe auf die arttypischen Eigenschaften der tierischen Aktionen und abstrahiert dabei notwendigerweise von den individuellen Unterschieden. Leont´ev richtet als Psychologe seinen Blick vordergründig auf eben diese individuellen Eigenschaften der Tiere, für die die allgemeinen Artmerkmale zwar bedeutsam sind, diese aber nicht erklären.

 „Andererseits kann sich das … individuelle Verhalten – diese Tatsache ist noch offensichtlicher – stets nur auf der Grundlage des instinktiven Artverhaltens bilden. Das bedeutet: Ebenso wie es kein Verhalten gibt, das ausschließlich durch angeborene, von Umwelteinflüssen unabhängige Bewegungen realisiert wird, gibt es keine Fertigkeiten oder bedingten Reflexe, die nicht von angeborenen Momenten abhingen.“ (S.141)Die Mechanismen des individuellen Verhaltens „   unterscheiden sich von denen des Artverhaltens vor allem insofern, als in ihnen die Fähigkeit zu einem Verhalten fixiert ist, mit dessen Hilfe die individuelle Anpassung erfolgt, während in den Mechanismen des Artverhaltens das Verhalten selbst fixiert ist. (Leont´ev, S237) 

Die Postulierung autonomer Aktionen – gleichgültig ob man sie nun „Instinkte“ oder „angeborenes Artverhalten“ nennt – ist in jedem Fall eine logisch erforderliche Voraussetzung eines subjektwissenschaftlichen Konzepts für Biologie und Psychologie. Beide Wissenschaften unterscheiden sich u.a. in der Fragestellung. Die (kausalistische) Biologie fragt nach der Entstehung des angeborenen Artverhaltens und sucht ihre Antworten in Evolutionstheorie und Genetik. Die (individualwissenschaftliche) Psychologie fragt nach der Entstehung der Individualität der Aktionen, die sich zwar auf der Grundlage des Angeborenen entwickelt, dadurch aber nicht erklärt werden kann.

Leont´ev löst die Frage nach der Beziehung des instinktiven Artverhaltens zum Individuellen mit der Kategorie der Tätigkeit.

  „Wie wir schon darlegten, wird die Tätigkeit, die die unmittelbaren biologischen, instinktiven Beziehungen der Tiere zur Umwelt realisiert, stets durch die Gegenstände angeregt, die ein biologisches Bedürfnis befriedigen, und ist auch auf diese gerichtet. Bei den Tieren entspricht jede Tätigkeit einem unmittelbaren biologischen Bedürfnis; jede Tätigkeit wird durch einen Gegenstand ausgelöst, mit dem sie ein biologischer Sinn verbindet: der Sinn eines Gegenstandes, der ein Bedürfnis unmittelbar befriedigt; und es gibt bei Tieren auch keine Tätigkeit, die ihrem letzten Kettenglied unmittelbar auf diesen Gegenstand gerichtet wäre. (S 168) 

Im Begriff der Tätigkeit wird das Artverhalten in seiner individuellen Ausgestaltung abgebildet, während im verhaltensbiologischen Begriff des Verhaltens das Arttypische dominiert. Verhalten ist Verhalten der biologischen Art, Tätigkeit ist Tätigkeit des Individuums.

Da die tierische Tätigkeit auf die Selbsterhaltung des (individuellen) Subjekts gerichtet, wird sie zu einer individualwissenschaftlichen Kategorie. Selbsterhaltung ist die Erhaltung des individuellen Subjekts /3/ und kann nur durch die individuellen Bedürfnisse des Subjekts erklärt werden. Zugleich ist sie auf einen externen Gegenstand gerichtet, in dem das subjektive Bedeutung objektiviert, vergegenständlicht wird. Der objektiv gegebene Gegenstand erhält so einen subjektiven Sinn.

Diese grundlegenden Elemente des Begriffssystems der Tätigkeitstheorie /4/ ermöglichen es, die individuelle Gestaltung angeborenen Artverhaltens schlüssig zu erklären. Die Tätigkeitstheorie Leont´evs ist keine psychologische, wie manche Psychologen meinen, sondern eine individualwissenschaftliche Theorie und als diese wissenschaftsübergreifend.

Der Begriff der Tätigkeit hat die Potenzen, Biologie und Psychologie auf eine gemeinsame naturwissenschaftliche Grundlage zu stellen und so beide in ihrer jeweiligen Eigenart zu betreiben. Dazu ist es aber erforderlich, dass die traditionelle Biologie und die traditionelle Psychologie ihre subjektwissenschaftliche Gemeinsamkeit erkennen. Beide müssen ernsthaft davon ausgehen, dass die Psyche eine biologische Eigenschaft aller tierischen Lebewesen – also auch des Menschen – ist, die beim Menschen ihre spezifische gesellschaftliche Gestalt annimmt. Nur so können sowohl die tierische wie die menschliche Psyche in ihrer jeweiligen Eigenart verstanden werden. Wenn man die tierische Psyche nicht versteht, versteht man auch die menschliche nicht – und umgekehrt.

  

/1/ Leontjew, Alexej (1964): Probleme der Entwicklung des Psychischen, Volk und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin

/2/ Lorenz, Konrad (1992): Über tierisches und menschliches Verhalten - Gesammelte Abhandlungen I, Piper & Co.Verlag, München, Zürich

/3/ Aktionen, die sich auf die Erhaltung der Art richten, sind folglich definitionsgemäß keine Tätigkeiten. Ich habe vorgeschlagen, sie „Handlungen“ zu nennen.

/4/ Zu Fragen der Tätigkeitstheorie habe ich mich auf meiner Website mehrfach geäußert (1, 2, 3).

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