Die Wahrnehmung der 5. Dimension
20. Juli 2011 - 09:19 UhrSeit einigen Wochen plage ich mich mit der Frage, wie ein Konzept für Wahrnehmung beschaffen sein müsste. Dieses Konzept muss es ermöglichen abzubilden, wie Subjekte mittels ihrer Sinnesorgane psychische Bilder der Realität zustande bringen. Alle mir bekannten Wahrnehmungskonzepte sind entweder empiristisch oder konstruktivistisch. Keines leistet das was es soll.
Der Empirismus kommt nicht mit der Autonomie der Sinnesorgane zurecht, die von der modernen Neurophysiologie beschrieben wird, der Konstruktivismus kann nicht darstellen, dass die psychischen Bilder Abbilder der Realität sind. Keines dieser Konzepte kann alle drei Variablen – Realität, Sinne und Abbilder – in eine logisch widerspruchsfreie Beziehung bringen. Dem Konstruktivismus fehlt die Realität, es gibt nur die konstruierte Wirklichkeit, die nicht wahrgenommen sondern konstruiert wird. Der Konstruktivismus braucht also kein Konzept für Wahrnehmung.
Dem Empirismus fehlt das moderne Verständnis der Funktionsweise der Sinnesorgane. Er geht davon aus, dass die Realität auf die Sinnesorgane einwirkt und aus diesen Eiwirkungen dann die psychischen Abbilder entstehen wie die Bilder in einem Spiegel. Das Subjekt erhält so eine passive Rolle. Es ist der Ort, in dem etwas geschieht. /1/
Diese Auffassung des Subjekts war nun für viele Autoren unbefriedigend. Sie versuchten, die passive Rolle des Subjekts durch allerlei Hilfskonstruktionen aufzubessern. Das ist vor allem in der Tätigkeitstheorie der Fall. Sie erklärt die psychische Widerspiegelung zu einem aktiven, schöpferischen Prozess. Das Subjekt soll die Widerspiegelung nicht passiv mit sich geschehen lassen, sondern sie aktiv gestalten. Der logische Widerspruch zwischen den Konzepten der „Widerspiegelung“ und „Aktivität“ wird nicht reflektiert.
Seinen besonderen Mangel zeigt das empiristische Wahrnehmungskonzept, wenn es um die Beschreibung der Wahrnehmung von Werkzeugen und Kulturgegenständen geht, d.h. von Gegenständen, die eine Funktion oder eine Bedeutung haben.
Aussagen wie „er sieht eine Angel“ oder „er hört ein Wort“ haben in keiner Variante eines empiristischen Wahrnehmungskonzepts einen Sinn. Im Konstruktivismus werden beide nicht wahrgenommen, sondern konstruiert.
Tomasello hat diesen Aspekt der Wahrnehmung experimentell untersucht. Er untersuchte die Fähigkeit von Schimpansen und Menschenkindern, wahrnehmbare Aktionen Anderer zu imitieren. Dabei stellte er fest, dass Schimpansen Werkzeuggebrauch nicht adäquat imitieren können. Nur „FĂĽr Menschen ist das Ziel oder die Intention des VorfĂĽhrenden ein zentraler Teil dessen, was sie wahrnehmen“ S.(42) Schimpansen dagegen „konzentrieren … sich bei ihren Beobachtungen auf Zustandsänderungen (darunter Ă„nderungen der räumlichen Position) der an der VorfĂĽhrung beteiligten Gegenstände, wobei die Handlungen des VorfĂĽhrenden wirklich nur als Körperbewegungen erscheinen. Die intentionalen Zustände des VorfĂĽhrenden und damit seine Verhaltensmethoden kommen in ihrer Erfahrung einfach nicht vor.“ (S. 42)
„Ein Ziel wahrnehmen“ wie soll das gehen? Diese Formulierung ergibt keinen Sinn, in welches der beiden Wahrnehmungskonzepte man sie auch stellt.
Leont´ev hat zur Beschreibung von Wahrnehmungen dieser Art eine weitere Hilfskonstruktion eingeführt: die „fünfte Quasidimension“. Diese Dimension ist die Bedeutung der Gegenstände, die diese in der menschlichen Gesellschaft erhalten. /2/ Er schreibt: „Auf den Menschen, das Bewußtsein des Menschen zurückkommend, muß ich noch einen Begriff einführen - den Begriff von der fünften Quasidimension, in der sich dem Menschen die objektive Welt enthüllt. Das ist das „semantische Feld“, das System der Bedeutungen. Die Einführung dieses Begriffs verlangt eine nähere Erläuterung. Tatsache ist, daß ich, wenn ich einen Gegenstand wahrnehme, diesen nicht nur in seinen räumlichen Dimensionen und in der Zeit, sondern auch in seiner Bedeutung wahrnehme.“ (S.8)
In dieser Hilfskonstruktion verbirgt sich ein verbreiteter Kategorienfehler: Eine zweistellige, relative Eigenschaft wird als einstellig, absolut abgesehen. Eine Bedeutung kommt einem Gegenstand aber nur in Bezug auf bestimmte Menschen zu. So hat beispielsweise ein stabförmiger Gegenstand für einen Menschen, der angeln will eine andere Bedeutung als für einen, der einen Pfeil für seinen Bogen sucht.
Dass die Tätigkeit treibende Bedürfnis beeinflusst natürlich die Wahrnehmung, der eine „sieht“ schon die Angel, die er herstellen will, der andere den zukünftigen Pfeil. In einer Tonfolge „hören“ nicht alle Menschen eine oder die gleiche „Melodie“.
Mit dem Konstrukt der 5. Dimension kann zwar das Widerspiegelungskonzept der Wahrnehmung aufrecht erhalten werden, dafür muss aber das Konstrukt der Realität als unabhängig vom Menschen existierend aufgegeben werden. Wenn der wahrnehmbaren Realität eine Bedeutung zugeschrieben wird, wird sie zu einer relativen Entität, zu einer Entität, die nur in Bezug zur menschlichen Wahrnehmung existiert und nicht unabhängig von dieser. Damit wären wir wieder beim Konstruktivismus und das Problem bleibt ungelöst.
Aber es scheint Licht am Horizont: Offensichtlich, kann ein tragfähiges Konzept für Wahrnehmung und Erkenntnis nicht im Rahmen der drei Variablen Realität – Sinne – psychische Bilder entwickelt werden. Dieser Rahmen wirkt wie ein „Spanischer Stiefel“, der bestimmte Antworten erzwingt.
Es muss wohl ein anderer Rahmen her, ein Rahmen, in dem die Erkenntnis-Variablen mehr Raum finden, Raum, in dem die Möglichkeiten ausgeschöpft werden können, die ihnen bei der Beschreibung von Wahrnehmung von Gegenständen der Kultur und deren Erkenntnis zukommen. Mit der Konstruktion eines solchen Rahmens plage ich mich nun rum.
/2/ Auch Tomasello bedient sich dieses Konstrukts. Er schreibt: „Aber die Werkzeuge und Artefakte einer Kultur haben noch eine andere Dimension, die Cole die „ideale“ Dimension nennt.“ (S.194). Auch M. Cole, ein ausgewiesener Anhänger der Kulturhistorischen Schule, nennt diese Dimension die „Fünfte“.
Literatur:
Leontjew, Alexej (1981): Psychologie des Abbilds. In Forum Kritische Psychologie 9, Argument, Berlin, Seiten 5 bis 19,
Tomasello, Michael (2002): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main S. 104,
Michael Cole (1998):Cultural psychology: a once and future discipline Harvard University Press,