Archiv für September 2009


Erkennen durch Wahrnehmung

29. September 2009 - 09:57 Uhr

Im vorigen Beitrag habe ich gezeigt, dass die Kategorie Erkenntnis auch ohne die Kategorie der Wahrnehmung konstruiert werden kann, wenn die Kategorie der Tätigkeit zugrunde gelegt wird. Die vom Subjekt konstruierten psychischen Abbilder werden in diesem Konstrukt nicht durch Wahrnehmung mit der Realität verbunden, sondern durch die Tätigkeit. Die Tätigkeit der Subjekte wird mittels der konstruierten psychischen Abbilder gesteuert, die durch den Erfolg der Tätigkeit verifiziert werden.

Man kann sich vorstellen, eine Bewegung auch durch Töne, beispielsweise eine Melodie zu steuern. Man singt ein Lied und fĂĽhrt an bestimmten Stellen der Melodie bestimmte Richtungswechsel durch. So kann man ein Ziel auch mit geschlossenen Augen erreichen, ohne Wahrnehmung der Umwelt. Die Information zur Steuerung der Bewegung erhält die Melodie durch das Subjekt. – Die australischen Aborigines steuern auf diese Weise durch “Songlines“ ihre mehrere Tausend Kilometer langen Märsche durch ihr Land. Muster, die zur Steuerung geeignet sind, mĂĽssen nur eine „Melodie“, eine „Gestalt“ haben. Auch WĂĽrfeln liefert ein Muster, das aber hat keine Gestalt und kann deshalb nicht gerichtet steuern.

Diese Konstruktion erfordert die Annahme einer physikalischen Realität. Zum einen werden Subjekte als materielle, stofflich-energetische Systeme unterstellt. Es gibt also reale Subjekte. Diese Subjekte agieren. Dazu brauchen sie einen stofflich-energetischen Input, d.h., Subjekte können nur in einer stofflich-energetischen Umwelt existieren, in der sie einen stofflich-energetischen Input generieren, der ihre Erhaltung gewährleistet. Diese Umwelt muss ebenso real sein wie das Subjekt selbst.

Solange das Subjekt nicht einer funktionellen Komponente zur Wahrnehmung ausgestattet ist, entfällt auch die Notwendigkeit, eine gesonderte informationelle Beziehung zwischen dem konstruierten psychischen Bild und der Umwelt auszuarbeiten. Die Beziehung Subjekt-Umwelt ist rein stofflich-energetisch und wird durch die Tätigkeit realisiert. Das befriedigte Bedürfnis bestätigt, dass das subjektive Konstrukt ein zutreffendes Bild der Realität war, Wahrnehmung ist (noch) nicht erforderlich.

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  Schema 1: Stofflich-energetische Steuerung der Tätigkeit durch den Erfolg (die Outputs sind autonome Leistungen des Subjekts)

Die organische Welt besteht zum größten Teil aus Lebewesen, die zwar tätig sind, und das erfolgreich, ohne über funktionelle Komponenten zu verfügen, die sie zur Wahrnehmung befähigen würden. Ihre Bilder der Realität sind keine psychischen Entitäten, sondern basieren beispielsweise auf chemischer (z.B. hormoneller) Basis. Nur Lebewesen, die mit einem neuronalen System ausgestattet sind besitzen auch eine Psyche und können psychische Bilder erzeugen. Nur diese sind auch mit Sinnesorganen und der Fähigkeit der Wahrnehmung ausgestattet. Das Leben bringt Psyche und Wahrnehmung also erst auf einer bestimmten Stufe der Evolution hervor.

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Schema 2: Informationelle Steuerung (der informationelle Output des Signalgebers wird auf die Steuerkomponente ĂĽbertragen und von dieser zum psychischen Bild und zur informationellen Output verrechnet)

Im Unterschied zur Tätigkeit ist die Wahrnehmung keine stofflich-energetische Beziehung des Subjekts zur Realität, sondern eine informationelle. Bei der Wahrnehmung nehmen die Subjekte weder Substanz noch Energie auf, sondern Informationen. Diese sind nicht durch stoffliche oder energetische Parameter gekennzeichnet. Deshalb können sie auch keine Beziehung des Subjekts zu einer stofflich-energetischen Realität abbilden. Da die Mainstreamerkenntnistheorie nicht auf der Tätigkeit, der stofflich-energetischen Beziehung des Subjekt zur Realität, aufbaut, sondern nur von der Wahrnehmung ausgeht, kann sie keine Beziehung zwischen psychischen Bildern und Realität erkennen. In dieser Sicht wird die Tätigkeit infolge des fehlenden Ergebnisses auf eine ziellose Bewegung reduziert, die keinen Sinn hat.

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Schema 3: Wahrnehmung ohne stofflich-energetischen Input - konstruktivistische Variante

Ohne eine auf den Erfolg – die Selbsterhaltung des Subjekts – gerichtete Tätigkeit kann es keine Bewertung der Informationen geben die das Subjekt erzeugt. Das ist auch dann nicht der Fall, wenn man ein empiristisches Wahrnehmungskonzept annimmt.

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Schema 4: Wahrnehmung ohne stofflich-energetischen Input - empiristische Variante

Erst wenn die Tätigkeit als materielle Aktion von Subjekt in das Modell der Wahrnehmung einbezogen wird, kann die Umwelt nicht mehr nur, nicht mehr ausschließlich als gedankliches Konstrukt gedacht werden. Der vom Sensor erzeugte Input aus der Umwelt erhält seinen informationellen Gehalt ebenfalls aus dem Erfolg der materiellen Tätigkeit. Der Umweltinput auf den Sensor enthält ebenso wenig Information wir der stofflich-energetische Input. Information erhält er erst, indem das Subjekt den Erfolg der Tätigkeit bewertet, die durch diesen Input gesteuert wird,

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Schema 5: Steuerung der Tätigkeit durch Wahrnehmung mit stofflich-energetischen Input - tätigkeitsttheoretische Variante

Das tätigkeitstheoretische  Konzept der Wahrnehmung erhält zwar das konstruktivistische Moment, erhält aber zugleich die Verbindung zur Realität. Vom empiristischen Konzept ĂĽbernimmt es die Auffassung, dass die Realität Information trägt, sieht diese aber nicht als “objektiv”, unabhängig vom Subjekt, sondern als subjektive, vom Subjekt erzeugte Eigenschaft der Realität.

Ich denke, dass man sich von der Idee verabschieden muss, die Realität enthielte objektive Informationen, die vom Subjekt „aufgenommen“ würde. Erst das Subjekt verleiht der Realität die Information, „objektive“ Information, Information ohne Subjekt ist ein Widerspruch in sich. Bei der Wahrnehmung nimmt das Subjekt Information nicht auf, sondern erzeugt sie und „moduliert“ sie der Umwelt auf. Durch den Erfolg der Tätigkeit bewertet das Subjekt die Information.

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