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Archiv für Dezember 2011


Tabubrüche in der Biologie

27. Dezember 2011 - 17:19 Uhr

Das Klagen über die Trennung der Natur- und Geisteswissenschaften hält an /1/, ernsthafte Versuche zu ihrer Überwindung sind Mangelware. Woran liegt´s?

Es ist ja nicht so, dass die Parteien einander nicht zur Kenntnis nähmen, sonst könnten sie ja ihre Getrenntheit nicht beklagen. Es fehlt auch nicht an Versuchen, die Denkergebnisse der jeweils anderen Seite nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern diese auch mit dem eigenen Denken zu verwinden, ja zu integrieren.

Die Versuche bleiben aber auf der Strecke, und das liegt zum einen daran, dass sie vom jeweils Anderen nicht rezipiert wurden, aber auch daran, dass entscheidende Begriffe und Termini von Natur- und Geisteswissenschaften dazu nicht geeignet sind. Sie wurden dazu nicht gemacht.

Wo liegt das Problem?

Die Naturwissenschaften verweisen – und das zu Recht – darauf, dass den grundlegenden Begriffen der Geisteswissenschaften Merkmale fehlen, ohne die die Naturwissenschaften nicht auskommen können, die für die Naturwissenschaften essentiell sind. Solche Merkmale sind beispielsweise Masse oder Energie. Psyche und Geist könne man nicht wiegen.

Das allein wäre schon hinderlich genug für gegenseitiges Verständnis. Erschwert wird die Lage dadurch, dass diese Merkmale nicht nur dem naturwissenschaftlichen Paradigma zugeschrieben werden, sondern vielfach als paradigmatisch für Wissenschaft schlichthin ausgegeben werden, wodurch den Geisteswissenschaften der Status der Wissenschaftlichkeit überhaupt abgesprochen wird. (Kutschera /2/) Das ist kein erfolgversprechendes Gesprächsklima.

Dessen ungeachtet gibt es die verschiedensten Bemühungen, jeweils moderne naturwissenschaftliche Erkenntnisse in geisteswissenschaftliche Gedankensysteme einzugliedern und diese so auf eine (natur)wissenschaftliche Basis zu stellen. Dabei bleiben nicht selten die geisteswissenschaftlichen Kategorien auf der Strecke. Seele oder freier Wille erscheinen als Illusion. (Roth, Gazzanniga)

Bemerkenswert, wenn auch selten, sind Versuche von Naturwissenschaftlern, geisteswissenschaftliche Termini zur Darstellung naturwissenschaftlicher Befunde zu benutzen. Brembs beschreibt zunächst experimentelle Befunde spontaner Bewegungen bei Fliegen und erörtert auf dieser Grundlage die Frage, ob man diese Befunde mit geisteswissenschaftlichen Termini wie „freier Wille“ bezeichnen kann. Dabei kommt er zu folgendem Ergebnis:

„I no longer agree that “’free will’ is (like ‘life’ and ‘love’) one of those culturally useful notions that become meaningless when we try to make them ’scientific’.” (Ball 2007). The scientific understanding of common concepts enrich our lives, they do not impoverish them, as some have argued (Weigmann 2005). This is why scientists have and will continue to try and understand these concepts scientifically or at least see where and how far such attempts will lead them. It is not uncommon in science to use common terms and later realize that the familiar, intuitive understanding of these terms may not be all that accurate. Initially, we thought atoms were indivisible. Today we don’t know how far we can divide matter. Initially, we thought species were groups of organisms that could be distinguished from each other by anatomical traits. Today, biologists use a wide variety of species definitions. Initially, we thought free will was a metaphysical entity. Today, I am joining a growing list of colleagues who are suggesting it is a quantitative, biological trait, a natural product of physical laws and biological evolution, a function of brains, maybe their most important one.” /3/

Die Initiative geht also von einer Naturwissenschaft aus, die einem geisteswissenschaftlichen Begriff einen naturwissenschaftlich beschreibbaren Inhalt zuordnet. Es wird also nicht versucht, Inhalte geisteswissenschaftlicher Begriffe naturwissenschaftlichen Sachverhalten zuzuschreiben, sondern eben umgekehrt, geisteswissenschaftliche Termini erhalten einen naturwissenschaftlichen Inhalt. Damit ist noch nichts über die logische Konsistenz und theoretische Tragfähigkeit dieser Zuschreibung gesagt. Allein der Fakt ist bemerkenswert, vollzieht er doch einen Tabubruch in Bezug auf das naturwissenschaftliche Denken in der Biologie.

Dieser Tabubruch besteht darin, dass das kausalistische Paradigma, dass alle beobachtbaren Ereignisse eine äußere Ursache haben müssen, aufgebrochen wird. Das ist schon in der dem grundlegenden Experiment zugrunde liegenden Frage angelegt: Was tut eine Fliege, wenn keine Reize auf sie wirken? Diese Frage hat in der traditionellen Biologie überhaupt keinen Sinn, denn sie definiert ja Verhalten als Reaktion auf Reize. Verhalten ohne Reiz ist in diesem Paradigma nicht beschreibbar.

Diese Idee von Björn Brembs hat das Zeug, Ausgangspunkt einer grundlegenden Umgestaltung der Biologie zu werden, wenn sie angemessen weiterentwickelt wird und nicht in der Menge einzelwissenschaftlicher Artikel untergeht, wie manche der Ideen von Uexküll oder Lorenz.

Als wirksamer erwiesen sich hingegen Ideen, die vor gut 50 Jahren von Bertalanffy und Prigogine entwickelt wurden. Ihre Begriffe des offenen thermodynamischen Systems und der dissipativen Struktur erweiterten sie das Kategoriensystem der Physik, Dadurch wurde es möglich, biologische Vorgänge mit den von der Biologie entwickelten neuen physikalischen Begriffen und Termini naturwissenschaftlich exakt  zu beschreiben.

Davon ist die aktuelle Fassung Brembs´ Begriff des freien Willens noch ein Stück entfernt. Es fehlen verbindende Begriffe Als Erstes ist es erforderlich, den Begriff der Psyche als nativ biologischen Begriff zu verstehen, der eine Funktion des Nervensystems beschreibt, die ebenso Resultat von Anpassung und Evolution ist wie der Wille. Der von Brembs vorgeschlagene Begriff des Willens als biologische Kategorie ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung, denn er bricht einem Tabu, das die Biologie daran hindert, naturwissenschaftlich Entitäten geisteswissenschaftlich zu begreifen und diesen so einen naturwissenschaftlichen Inhalt zu verleihen.

 

Anmerkungen:

/1/ z.B. „Die Natur der Naturwissenschaft“, Blog von Josef Honerkamp

/2/ U. Kutschera; „Nichts in den Geisteswissenschaften ergibt einen Sinn außer im Lichte der Biologie

/3/ Brembs, B. (2011) Towards a scientific concept of Free Will as a biological trait: spontaneous actions and decision-making in invertebrates Proc. R. Soc. B 22 March 2011 vol. 278 no. 1707 930-939

 

23 Kommentare » | Allgemein, Freier Wille, Kausalismus, Psyche, Verhaltensbiologie