Kategorie: Evolution


UexkĂĽll und die Evolutionstheorie

20. Oktober 2010 - 10:14 Uhr

Bei meinen Überlegungen stoße ich immer wieder auf die „Theoretische Biologie“ von Jacob von Uexküll /1!, eine Arbeit, die in den biologischen Wissenschaften noch immer nicht die Anerkennung gefunden hat, die ihm zukommt.

Es ist die erste – und wie ich meine – auch einzige hinreichend vollständige und in sich schlüssige biologische Theorie, die die Lebewesen konsequent als Subjekte auffasst und dazu ein logisch und terminologisch konsistentes Begriffssystem vorweist. Damit war er im Jahr 1928 den Biologen seiner Zeit weit voraus. Er hatte erkannt, dass das kausalistische Paradigma der Physik und Chemie ungeeignet war, die spezifische Seinsweise der Lebewesen adäquat abzubilden. Er hatte weiter nicht nur erkannt, dass eine wissenschaftliche  Biologie ein prinzipiell anderes Erklärungsprinzip erforderte, er hat ein solches Erklärungsprinzip auch ausgearbeitet.

Seine Gedanken wurden jedoch kaum rezipiert, nur sein Umweltbegriff fand Eingang in die wissenschaftliche Biologie. Da dieser jedoch nicht in dem zugehörigen logischen und terminologischen Zusammenhang rezipiert wurde, konnte er auch nur in fragmentarischer („kastrierter“) Form angeeignet werden./2/

Das grundlegende Prinzip, welches Leben adäquat erklären kann, nannte er „Planmäßigkeit“. Hinter dieser Planmäßigkeit stand nach Uexküll jedoch nicht irgendein planendes Wesen, so wie es der heutige Gebrauch dieses Wortes nahe legt, er fasste die Planmäßigkeit vielmehr als Naturkraft auf, als dem Leben innewohnende konstitutive Eigenschaft. Am Ende dieses Beitrags wird ein längerer Text zitiert, der das hinreichend belegt.

Heute drücken wir diese Eigenschaften des Lebendigen die, Uexküll mit dem Wort „Planmäßigkeit “ ausdrückte, mit Termini wie „Organisation“ oder „Information“ aus. Diese Kategorien sind aber inzwischen wie die Kategorie des Lebens in den Naturwissenschaften dem kausalistischen Paradigma untergeordnet worden und werden auch auf das Schema Ursache – Wirkung abgebildet. Das führt zwar zu logischen und terminologischen Problemen und Widersprüchen, führt aber nicht zu einem Überdenken dieses Paradigmas. In den Geisteswissenschaften werden diese Kategorien als subjektive, geistige Kategorien ohne materielle Eigenschaften abgebildet, so dass Natur- und Geisteswissenschaften weiter aneinander vorbei reden.

Die entscheidende Kategorie in Uexkülls Theorie ist die des Subjekts. Erst wenn die Lebewesen als autonome Subjekte abgebildet werden, können sie in ihrer Besonderheit als Lebewesen verstanden werden. Die Biologie ist in Uexkülls Verständnis die Wissenschaft von den Subjekten.

„Die Physik behauptet, dass die uns umgebende Natur nur der Kausalität gehorchen. Solche bloß kausal geordnete Dinge haben wir ‚Objekte’ genannt. Im Gegensatz hierzu behauptet die Biologie, daß es außer der Kausalität noch eine zweite subjektive Regel gibt, nach der wir die Gegenstände ordnen – die Planmäßigkeit, die notwendig zur Vollständigkeit des Weltbildes hinzugehört.

Wenn das Hämmerchen eine Klaviersaite trifft und ein Ton erklingt, so ist das eine reine Kausalreihe. Wenn dieser Ton aber einer Melodie angehört, so ist er in eine Tonreihe hineingestellt, die gleichfalls eine Ordnung darstellt, die aber nicht kausaler Natur ist.

Wir wollen nun diejenigen Objekte, deren Bauart durch bloße Kausalität nicht zu verstehen ist, weil bei ihnen die Teile zum Ganzen im gleichen Verhältnis stehen wie die Töne zur Melodie, ‚Gegenstände’ nennen.

Objekte und Gegenstände bestehen beide aus Stoff, aber im Objekt gibt es keine andere Anordnung der Stoffteile, als sie die Struktur des Stoffes mit sich bringt. Im Gegenstand gibt es außerdem ein Gefüge, das die Teile zu einem planvollen Ganzen verbindet.

Äußerlich unterscheiden sich Objekte und Gegenstände gar nicht voneinander.“ (Theoretische Biologie, S.83f.)

In Uexkülls Verständnis wird nun die Umwelt der Lebewesen nicht von den Objekten sondern von den Gegenständen gebildet. Zur Umwelt wird eine Umgebung erst durch ein Subjekt, erst das Subjekt macht die Umwelt.

„Jetzt wissen wir, daß es nicht bloß einen Raum und eine Zeit gibt, sondern ebenso viele Räume und Zeiten wie es Subjekte gibt, da jedes Subjekt von seiner eigenen Umwelt umschlossen ist, die ihren Raum und ihre Zeit besitzt. Jede dieser abertausend Umwelten bietet den Sinnesempfindungen eine neue Möglichkeit sich zu entfalten. Dies ist dritte Mannigfaltigkeit – die Mannigfaltigkeit der Umwelten.

Damit stoßen wir auf den neuen Naturfaktor – den Plan, dessen Erforschung zur Hauptaufgabe der Biologie geworden ist. Noch stecken wir in den ersten Anfängen, und können keine ausreichende Beschreibung dieses Faktors geben.“ (Theoretische Biologie, S. 232f.)

In diesem Kontext wird nun verständlich, warum Uexküll die Evolutionstheorie ablehnte. Im Paradigma dieser Theorie ist die Umwelt ein von den Lebewesen unabhängiger „Faktor“, der auf die Lebewesen einwirkt und an den sie durch Mutation und Auslese angepasst werden, wodurch die Evolution zustande kommen soll. Im Erklärungsprinzip Uexkülls ist die Umwelt dagegen ein Produkt des autonomen Subjekts, das nichts im Subjekt bewirken kann, auch keine Evolution.

Der Denkfehler, der diesem Schluss zugrunde liegt, ist die Gleichsetzung des Naturprozesses „Evolution“ mit der Theorie „Darwinismus“, die diesen Naturprozess erklärt. Seiner Denkweise hätte es eigentlich entsprochen zu versuchen, den Naturprozess „Evolution“ auch mit seinem Prinzip der  Planmäßigkeit des Lebendigen zu erklären, wie er dies mit allen anderen Naturprozessen versucht hat.

Dieser Fehlschluss wirkte sich nun verhängnisvoll auf das Schicksal seiner Theorie aus. Er war wohl die entscheidende Ursache für die ausbleibende Rezeption der Theorie Uexkülls. Im Jahre 1920 hatte die Evolutionstheorie Darwins  in den kausalistischen Naturwissenschaften den Status eines allgemein gültigen Paradigmas erreicht, das von keinem Naturwissenschaftler, der ernst genommen werden wollte, angezweifelt werden durfte. Das verbitterte Uexküll stark, wie die folgende Stelle aus der Theoretischen Biologie zeigt:

„Der Darwinismus, dessen logische Folgerichtigkeit ebensoviel zu wünschen läßt wie die Richtigkeit der Tatsachen, auf die er sich stützt, ist mehr eine Religion als eine Wissenschaft. Deshalb prallen alle Gegengründe an ihm wirkungslos ab; er ist weiter nichts als die Verkörperung des Willensimpulses, die Planmäßigkeit auf jede Weise aus der Natur loszuwerden.“ (Theoretische Biologie, S197.)

Bis auf den heutigen Tag ist die Gleichsetzung von Gegenstand und Theorie weit verbreitet. Wer am Darwinismus zweifelt, dem wird meist gleich unterstellt, er bestreite den Fakt der Evolution. Das erschwert die Diskussion um die Weiterentwicklung der Theorie der Evolution. So verharrt diese Theorie in den Fesseln kausalistischen Denkens, und das Licht, das sie nach einem Wort Dobshanzkys auf alle Bereiche der Biologie werfen könnte, bleibt morgengrau.

*

Das folgende längere Zitat aus der „Theoretischen Biologie“ soll noch einmal deutlich machen, wie Uexküll den Begriff er „Planmäßigkeit “ verstand und warum das Argument, Planmäßigkeit  erfordere einen externen Planer in Bezug auf Uexküll auch heute noch unzutreffend ist.

„Die auĂźerordentlichen Schwierigkeiten, die die Biologie zu ĂĽber­winden hat, um die Anerkennung der Planmäßigkeit als Naturmacht zu erzwingen, stammen aus der landläufigen Alternative: Leib – Seele, mit der man alle Möglichkeiten der lebenden Natur erschöpft zu haben meint. Man vergiĂźt dabei, daĂź sowohl Seele wie Leib planvoll sind, und planmäßig miteinander zusammenhängen, Es gibt also noch ein Drittes, das weder aus der Seele noch aus dem Leibe abgeleitet werden kam. Wenn man die Lehre von der Seele Psychologie und die Lehre vom Leibe Physiologie nennt, so fehlt noch die Lehre vom Dritten, das sowohl Leib wie Seele in sich schlieĂźt, nämlich die Lehre von der Planmäßigkeit alles Lebendigen - die Biologie. Da sowohl die Seele wie der Leib planmäßig sind, bildete bisher die Planmäßigkeit sowohl einen Teil der Physiologie - als spezielle Mechanik wie einen Teil der Psychologie ab Lehre vom Zweck oder -­Finalität. Aber weder ist der Zweck auf die Physiologie noch die Mechanik auf die Psychologie anwendbar. Weder kann man die Grund­sätze der Finalität in der Mechanik, noch die Grundsätze der Mechanik in der Finalität verwerten.Hier klaffte eine LĂĽcke, die immer empfindlicher wurde, je mehr man sich in das Studium der Lebewesen vertiefte. Die planmäßigen Bin­dungen der speziellen Mechanik, die nur bei Betrachtung des einzelnen Tierkörpers sichtbar werden, wurden zugunsten der kausalen Gesetze der allgemeinen Mechanik vernachlässigt und nach und nach die Physio­logie den anorganischen Wissenschaften angegliedert.Von selten der Psychologie sind ebenfalls Schritte unternommen worden, um die LĂĽcke zwischen Mechanik und Finalität auszufĂĽllen. Die Schule der Gestalttheoretiker sieht in der Gestalt ein Urphänomen, das sie aber nicht auf das organische Leben beschränkt wissen will, im Gegensatz zu DRIESCH, der die “Ganzheit“ als Charakteristikum des Lebendigen anspricht f denn die anorganische Natur kennt nur Summen, jedoch keine Ganzheit, die - ich kann mich nicht anders ausdrĂĽcken - eine planmäßige Anordnung ihrer Teile darstellt. Auch dem Begriff der Gestalt scheint mir der Begriff der Planmäßigkeit zugrunde zu liegen, den ich mit DRIESCH nur auf Lebendiges und auf Erzeugnisse von lebenden Wesen anwenden möchte. Wenn man Gestalt und Ganzheit ihren Teilen gegenĂĽberstellt, wird man bei den Teilen der Gestalt so­gleich auf den Unterschied von leitenden und begleitenden Eigen­schaften stoĂźen, was zu sehr wichtigen Untersuchungen gefĂĽhrt hat. Der Begriff der Ganzheit ist hierin nicht so fruchtbar.Ohne mich in philosophische Erörterungen einlassen zu wollen, muĂź ich doch bemerken, daĂź auch von seiten der Erkenntnistheorie der Biologie Schwierigkeiten bereitet wurden, KANT hat die Kausalität der konstitutiven Tätigkeit des Verstandes zugerechnet, dagegen die Planmäßigkeit dem regulativen Gebrauch der Vernunft zugewiesen. Das erweckt den Eindruck, als könne ein Plan niemals der integrierende Teil eines Gegenstandes sein, sondern sei bloĂź eine, wenn auch mit Not­wendigkeit hinzugedachte menschliche Regel. DRIESCH hat diese Frage eingehend behandelt und nachgewiesen, daĂź die Planmäßigkeit eben­falls zu den konstitutiven Eigenschaften zu rechnen sei.Es ist nicht schwierig, sich davon zu ĂĽberzeugen, daĂź jeder Ge­brauchsgegenstand und jede Maschine ein Planträger ist. Bedeutsam ist dabei zweierlei: erstens, daĂź jeder Plan, obgleich er die Form der Materie bestimmt und die Bewegungen der Maschine beherrscht. Selbst weder Stoff noch Bewegung ist und zweitens, daĂź der Plan in allen menschlichen Erzeugnissen heteronom ist, d. h. nicht aus der Maschine: selbst stammt im Gegensatz zu allen Lebewesen, deren Pläne autonom sind.

Auch diese Ausdrücke decken den Tatbestand nicht völlig. Wie wir bei der Entstehung der Lebewesen feststellen konnten, nehmen di­e indifferenten Zellautonome bei jeder neueinsetzenden Sprossung einen fremden Plan auf, der vorher in ihnen nicht vorhanden war. Aber dieser Plan wirkt sich in ihnen autonom aus, was bei den Maschinen nicht der Fall ist. Er wird also zum EigenpIan und bleibt kein Fremdplan, die die Maschinenteile einmalig ineinanderfügt, der aber weder den Betrieb aufrecht zu erhalten, noch Schäden auszubessern vermag. Eine Ma­schine ist, wenn sie einmal vom Lebewesen Mensch erbaut wurde, restlos Stoff und gehorcht nur noch der Kausalität. Sie ist daher tot und bedarf zur Aufrechterhaltung ihrer Planmäßigkeit eines lebenden Betriebsleiters.“ (Theoretische Biologie, S198ff.)

Ob das Wort „Planmäßigkeit “ damals wie heute ein geeigneter Terminus für den gemeinten Sachverhalt ist, sei dahin gestellt. Viele seiner Gedanken finden wir heute in der Systemtheorie, in der der von Uexküll gemeinte Sachverhalt mit anderen Termini bezeichnet wird. Aber Fragen nach der „Organisation“ der Evolution, nach ihrer „Struktur“ bleiben nach wie vor ungestellt.

 

/1/ Jacob von UexkĂĽll: Theoretische Biologie. Verlag von Julius Springer, Berli, 1928.

/2/ Eine gute Darstellung der Verwendung des Terminus „Umwelt“ findet man in „Wikipedia“

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Linguistisches missing link gefunden?

10. April 2010 - 10:03 Uhr

Daniel Everett und die Sprache der PirahĂŁ haben den alten Streit der Linguisten ĂĽber die Frage, ob die Sprache dem Menschen angeboren ist, aufs Neue entfacht. Ausgezogen als christlicher Missionar, der brasilianischen Indianern die Bibel in deren eigene Sprache ĂĽbersetzen wollte, kam er nicht nur mit neuen Erkenntnissen ĂĽber die menschliche Sprache und deren Theorie zurĂĽck, sondern auch mit einem neuen Weltbild, in dem wie bei den PirahĂŁ weder der christliche noch ein anderer Gott einen Platz gefunden hat.

Sein nun auch in deutscher Sprache vorliegendes Buch „Das glücklichste Volk“ lässt uns an drei spannenden Reisen teilhaben. Da ist zum ersten die Reise in den brasilianischen Urwald, dessen fremde Natur ihn und seine Familie in sieben Jahren  nicht wenige Abenteuer bestehen lässt. Da ist zu anderen die Reise in eine fremde Kultur und zu einer fremden Sprache, die Everett anschaulich beschreibt und die wir nur staunend bewundern können. Und da ist zum dritten die Reise eines christlichen Missionars, die ihn durch das tiefe Eindringen in die Kultur der Pirahã vom christlichen Glauben zu einer nontheistischen Weltanschauung geführt hat.

Diese Reisen führten Everett auch zu einem Wechsel seiner wissenschaftlichen Auffassungen über die Natur der menschlichen Sprache. Ausgehend von dem Auffassungen Chomskys über eine letztlich allen Menschen angeborenen Universalgrammatik entwickelte er die Auffassung, das Sprache und Grammatik vielmehr durch die Kultur der Gesellschaft bestimmt werden. In dieser Auffassung steht er zwar nicht allein, nimmt aber Auffassungen der  der „kulturhistorischen Theorie“ anscheinend ebenso wenig zur Kenntnis wie etwa die Arbeiten Merlin Donalds über die kulturelle Determination neurophysiologischer Prozesse. Allein die empirische Analyse der Sprache der Pirahã und deren Grammatik führten ihn zu diesem Standpunkt.

Die Pirahã kennen keine Wörter für Zahlen, keine Wörter für Farben und keine Wörter für gestern und heute. Die Sprache der Pirahã kennt auch keine Nebensätze und keine Einbettungen. Das Pirahä gehört unter allen Sprachen der Welt zu denen mit der geringsten Zahl an Phonemen: Es gibt für Männer nur drei Vokale (i, a, o) und acht Konsonanten (p, t, k; s, h, b, g und den Knacklaut oder Glottisverschlusslaut (x) und für Frauen drei Vokale (i, a, o) und sieben Konsonanten (p, t, k, h, b, g und x. sie benutzen h an allen Stellen, wo Männer h oder s aussprechen). Frauen haben also weniger Konsonanten als Männer. Das ist zwar nicht einzigartig, es ist aber zumindest ungewöhnlich. (Zum Vergleich: Das Deutsche hat etwa 40 Phoneme, Dialekte haben oft noch mehr.)

Es fällt auf, dass die Beschreibung des Pirahã vor allem durch die Aufzählung fehlender Merkmale erfolgt, also durch die Beschreibung desen, was diese Sprache alles nicht hat. Diese dem Pirahã fehlenden Elemente werden jedoch von der linguistischen Theorie jedoch als Merkmale einer Sprache gefordert. Ihr Fehlen führt Everett zu dem Schluss, dass diese Theorien als allgemein gültige Paradigmata ungeeignet sind und ein anderes Erklärungsprinzip erforderlich ist.

Als dieses Erklärungsprinzip schlägt Everett das „Prinzip des unmittelbaren Erlebens“ (immediacy of experience principle, IEP) vor. Dieses Prinzip besagt, dass das Pirahã nur Aussagen enthält, die unmittelbar mit dem Augenblick des Sprechens zu tun haben, weil sie entweder vom Sprecher selbst erlebt wurden oder weil jemand, der zu Lebzeiten des Sprechers gelebt hat, ihr Zeuge war.

Die Gültigkeit dieses Prinzips ist nicht auf die Sprache beschränkt, sondern hat den Rang eines allgemeinen kulturellen Prinzips, das in allen Lebensbereichen der Pirahã wirkt. Er schreibt:

„Nach und nach fielen mir immer mehr Beobachtungen ein, die für den Wert des unmittelbaren Erlebens zu sprechen schienen. So erinnerte ich mich beispielsweise daran, dass die Pirahã keine Lebensmittelvorräte anlegen, nicht für mehr als einen Tag auf einmal planen und nicht über die entfernte Vergangenheit oder Zukunft reden - sie konzentrieren sich ganz offensichtlich auf das Jetzt, auf ihr unmittelbares Erleben. Das ist es!, dachte ich eines Tages. Das verbindende Element von Sprache und Kultur der Pirahã ist die kulturelle Beschränkung, nicht über irgendetwas zu sprechen, das über das unmittelbare Erleben hinausgeht.“ (S. 199)

und

„Das Prinzip des unmittelbaren Erlebens ermöglicht überprüfbare Voraussagen, und darin zeigt sich, dass es sich nicht nur um eine negative Aussage über etwas handelt, das im Pirahã fehlt, sondern um eine positive Behauptung über das Wesen dieser Grammatik und darüber, wie sie sich von anderen, allgemein bekannten Grammatiken unterscheidet.“ (S. 349)

Dabei handelt es sich offensichtlich nicht allein um Besonderheiten der Sprache, sondern auch um Besonderheiten des Erkenntnissystems der Pirahã, das sehr eng an die unmittelbare Wahrnehmung gebunden iat. So enthält dieses Erkenntnissystem keine Schöpfungsmythen oder andere Überlieferungen. Diesem Prinzip entspricht auch ihr einfaches Verwandtschaftssystem. Infolge der geringen Lebenserwartung leben gewöhnlich nur drei Generationen gleichzeitig nebeneinander, ein Wort – und damit ein Begriff – für „Urgroßvater“ fehlt – es ist nach diesem Prinzip auch nicht erforderlich.

Die Bedeutsamkeit der Wahrnehmbarkeit spiegelt sich auch darin wieder, dass die PirahĂŁ ein eigenes Wort benutzen, um die Wahrnehmbarkeit als kulturelles Konzept zu bezeichnen. Das herauszufinden, so berichtet Everett, hat ihn viel MĂĽhe gekostet. Er schreibt

„Offensichtlich beschreibt das Wort XibipĂ­Ă­o ein kulturelles Konzept oder eine Wertvorstellung, zu der es in unserer Sprache keine eindeutige Entsprechung gibt. NatĂĽrlich kann auch bei uns jeder sagen” lohn ist verschwunden” oder »Billv ist gerade aufgetaucht”, aber das ist nicht das Gleiche. Erstens benutzen wir fĂĽr Auftauchen und Verschwinden unterschiedliche Wörter, das heiĂźt, es sind auch unterschiedliche Konzepte. Noch wichtiger ist aber, dass wir uns zweitens vor allem auf die Identität der kommenden oder gehenden Person konzentrieren und nicht auf die Tatsache, dass sie gerade unseren Wahrnehmungsbereich betreten oder verlassen hat.SchlieĂźlich wurde mir klar, dass dieser Begriff das benennt, was ich als Erfahrungsschwelle bezeichne: den Vorgang, die Wahrnehmung zu betreten oder zu verlassen und sich damit an den Grenzen des Erlebens zu befinden.“ (S.196)

                               *

Diese und andere von Everett beschriebenen Besonderheiten der Kultur der Pirahã und ihrer Sprache habe ich mit besonderem Interesse zur Kenntnis genommen, bestätigen sie doch eigene theoretische Erwägungen über die Entstehung der menschlichen Sprache.

Unter anderem geht es mir bei diesen Überlegungen um die Frage, wie die Wörter einer Sprache zu ihren gesellschaftlichen Bedeutungen kommen. Wie kommt es dazu, dass alle Mitglieder einer Gemeinschaft mit einem bestimmten Wort die gleiche Bedeutung verbinden? In einer sprechenden Gesellschaft ist das klar: durch Lernen durch Wahrnehmung. Ein Kenner des Wortes sagt es und zeigt auf den Gegenstand. Beide nehmen den gleichen Gegenstand wahr und erzeugen das psychische Abbild dazu. Wie aber, wenn es noch keine Sprache gibt, in der sich die Individuen verständigen können?

Ich habe vorgeschlagen, ein hypothetisches Stadium vorsprachlicher Zeichen anzunehmen, das aus der Verwendung von Werkzeugen in der gemeinsamen arbeitsteiligen unmittelbar hervorgehen kann (vgl. Litsche 2004, S, 455ff.). In gemeinsamer Tätigkeit benutzte Werkzeuge sollten die die ersten „Träger“ gesellschaftlicher Bedeutungen gewesen, so wie sie es auch heute noch sind. Sie können in einer sprachlosen Kommunikation der Organisation kollektiver Tätigkeiten dienen. Wenn sich eine Gruppe von Menschen zum Zweck des Schneeschippens treffen, genügt es, die vorhandenen Werkzeuge auf die Anwesenden aufzuteilen, und jeder weiß, was er zu tun hat. Was mit einem Besen oder einer Schaufel zu tun ist, weiß jeder aus eigener Wahrnehmung.

Die entscheidende Bedingung für das Entstehen gesellschaftlicher Bedeutungen ist demnach die Benutzung von Werkzeugen in gemeinsamer, arbeitsteiliger Tätigkeit.

An die Stelle der „echten“ Werkzeuge können in der Planungsphase der Tätigkeit Spielzeuge oder farbige Kugeln als Zeichen für die Werkzeuge treten, um den gleichen Effekt zu erzielen. Die Bedeutung dieser Zeichen kann auch ohne Sprache durch Wahrnehmung kommuniziert werden, indem Zeichen und Werkzeug gemeinsam gezeigt werden.

Auf diese Weise kann ein ganzes System sprachloser Zeichen und gesellschaftlicher Bedeutungen geschaffen werden. Aus der ursprünglichen Kultur kollektiver Werkzeuge entsteht eine Kultur sprachloser Zeichen, in der eine umfangreiche Kommunikation ohne Sprache möglich wird. Einige Aspekte einer solchen Kommunikation habe ich auf meiner Website dargestellt.

Zeichen und gesellschaftliche Bedeutungen können also bereits vor der Sprache entstanden sein. Sie sind die Grundlage für den nächsten Schritt der Evolution, die Umwandlung der Laute der werdenden Menschen in sprachliche Zeichen. Die Sprache kann entstehen, weil bereits ein System vorsprachlicher gesellschaftlicher Zeichen und Bedeutungen vorhanden ist. Das ist das, was den rezenten Menschenaffen zur Ausbildung einer gesellschaftlichen Sprache fehlt.

Die nichtsprachlichen Zeichen, die wir heute benutzen, bedĂĽrfen immer eines Bezugs zur Sprache. Das unterscheidet sie von den hypothetischen vorsprachlichen Zeichen.

Ein solches vorsprachliches Zeichensystem würde Merkmale aufweisen, die Everett auch in der Sprache der Pirahã gefunden hat. In einer Kultur vorsprachlicher Zeichen sind keine Zeichen möglich, die Eigenschaften getrennt von deren gegenständlichen Trägern bezeichnen. Mit den vorsprachlichen Zeichen könnten also beispielsweise keine isolierten Farben und keine Zahlen dargestellt werden. Zahlzeichen und Farbzeichen sind nicht als anschaubare gegenständliche Zeichen möglich.

                          Xibipíío

Everetts Entdeckung hat meinen Wahrnehmungsbereich ungemein bereichert. Im PirahĂŁ finde ich viele Eigenschaften meines hypothetischen Systems vorsprachlicher Zeichen wieder. Mit der Beschreibung dieser Sprache nähert sich mein theoretisches Konstrukt nun der “Wahrnehmungsschwelle”.

Die Sprache der Pirahã erscheint mir als eine sehr ursprüngliche Sprache, die einer Kultur der vorsprachlichen Zeichen noch sehr nahe ist. Das Pirahã könnte so ein missing link im Prozess der Evolution der menschlichen Sprache sein, das die Lautsprache mit dem System der vorsprachlichen Zeichen verbindet.

 

Caroll, Lewis (1993): Alice im Wunderland, Lentz-Verlag, MĂĽnchen, S. 52.

Donald, Merlin (2008): Triumph des Bewusstseins * Die Evolution des menschlichen Geistes, ,

Litsche, Georg A. (2004): Theoretische Anthropologie * GrundzĂĽge einer theoretischen Rekonstruktion der menschlichen Seinsweise, Lehmanns Media-LOB, Berlin.

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Erkenntnistheorie, wie hältst du´s mit der Evolution?

28. Januar 2010 - 16:12 Uhr

Dem aufmerksamen Leser meines Blogs wird nicht entgangen sein, dass ich mich zurzeit verstärkt mit erkenntnistheoretischen Problemen befasse. Beim Vergleich verschiedener erkenntnistheoretischer Ansätze fiel mir auf, dass viele davon ausgehen, dass die menschliche Erkenntnis ein Resultat der Evolution ist. Das erschien mir solange nicht bemerkenswert, bis ich untersuchte, welche Rolle die These von der Evolution der Erkenntnis in der logischen Struktur der jeweiligen Erkenntnistheorie spielte.

Ich ersetzte die These, dass die menschliche Erkenntnis im Verlauf der Evolution entstanden ist durch die gegenteilige These und fragte mich, wie sich die jeweilige Erkenntnistheorie verändern würde, wenn man von einer kreationistischen Annahme ausginge und annähme, dass menschliche Erkenntnis geschaffen worden sei.

Zuerst prüfte ich meine erkenntnistheoretische Herkunft, die Erkenntnistheorie des Marxismus. Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, dass die grundlegenden Aussagen der marxistischen Erkenntnistheorie auch mit kreationistischen Voraussetzungen verträglich sind. Das war mir bisher noch nie aufgefallen. Für mich war – und ist – die Evolutionstheorie eine der essentiellen →Prämissen meines Denkens, und deshalb hatte ich die Evolutionstheorie auch für eine essentielle Prämisse der Erkenntnistheorie gehalten, die ich mir im Verlauf der Entwicklung meines wissenschaftlichen Denkens angeeignet hatte.

Erst als ich bewusst darĂĽber nachdachte, wurde mir klar, dass die Evolutionstheorie nicht essentiell fĂĽr die marxistische Erkenntnistheorie ist, auch wenn sie von sich das Gegenteil behauptet.

Danach prüfte ich andere mir bekannte Theorien der Erkenntnis und stellte fest, dass auch sie keine bestimmte Theorie der Entstehung der Erkenntnis erforderten, sondern mit unterschiedlichen Annahmen über die Entstehung ihres Gegenstandes verträglich sind.

Der Grund für diesen Sachverhalt liegt wohl im Selbstverständnis der Erkenntnistheorie als philosophischer Disziplin. Das bedingt, dass der Gegenstand einer Erkenntnistheorie aus der Philosophie abgeleitet wird, als deren Bestandteil die Erkenntnistheorie entwickelt wird.

Früher dachte ich, dass eine Philosophie, welche wie der Marxismus die Evolutionstheorie zu ihren essentiellen Grundlagen zählt, dies nolens volens auf ihre Bestandteile überträgt. Erst allmählich begann ich zu begreifen, dass keine Philosophie eine wissenschaftliche Theorie zu ihren essentiellen Grundlagen zählt, weil das dem Wesen der Philosophie widersprechen würde. Philosophie befasst sich (u.a.) mit den allgemeinen Grundlagen aller Wissenschaft und ist deshalb verträglich mit jeder wissenschaftlichen Theorie. Philosophie begründet sich nicht wissenschaftlich, sie begründet vielmehr Wissenschaft philosophisch. Dem widerspricht nicht, wenn Philosophie mit Wissenschaft verträglich sein will. Deshalb sieht auch die Theologie vielfach keinen unüberbrückbaren Gegensatz zur Evolutionstheorie.

Philosophien unterwerfen sich keiner wissenschaftlichen Theorie, indem sie aus einer solchen abgeleitet werden. Wissenschaftliche Theorien sind zwar aus Philosophien ableitbar, nicht aber umgekehrt. Diese Beziehung ist implikativ, also von der Art wenn → dann, was heißt, dass die vorausgesetzte Philosophie auch dann wahr ist, wenn die abgeleitete wissenschaftliche Theorie falsch ist.

Eine philosophische Erkenntnistheorie kann daher die Frage nach der Entstehung der menschlichen Erkenntnis nicht als wissenschaftliches Problem stellen und daher auch nicht lösen. Sie beginnt mit einer philosophischen Antwort auf ein philosophisches Problem.

Die Evolutionstheorie kann nur dann eine essentielle Voraussetzung einer Erkenntnistheorie werden, wenn die Erkenntnistheorie aus der Evolutionstheorie abgleitet wird. Meine Erwartung, dies in der evolutionären Erkenntnistheorie zu finden, wurde jedoch enttäuscht. Das liegt schon in ihrem Ansatz. Konrad Lorenz, der wohl die erste evolutionstheoretisch hinreichend ausgearbeitete evolutionäre Erkenntnistheorie vorgelegt hat, nennt seine Schrift „Die Rückseite des Spiegels“ im Untertitel „Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens“, und das erste Kapitel hat den Titel „Das Leben als Erkenntnisvorgang“.

Mit der Qualifizierung des Erkenntnisprozesses als biotischer Prozess wird der Erkenntnisprozess aber seiner kulturellen und damit spezifisch menschlichen Qualität beraubt. Was untersucht wird, ist nicht der menschliche Erkenntnisprozess, sondern der biotisch-psychische Prozess der Entstehung psychischer Abbilder, wie sie auch von Tieren mit einem Zentralnervensystem gebildet werden. Die Frage nach der Spezifik des menschlichen Erkennens wird in diesem Kontext nur eliminiert, ist auch in diesem Kontext nicht formulierbar und muss deshalb unbeantwortet bleiben.

Der Grund für die fehlende Antwort auf die Frage nach der Entstehung der menschlichen Erkenntnis ist die Struktur der Evolutionstheorie selbst. Sie ist als naturwissenschaftliche Theorie im kausalistischen Paradigma der Naturwissenschaften angesiedelt und kann die Grenze des biologischen Verständnisses nicht überschreiten. Mit der Entstehung des Menschen hat die Evolution diese Grenze aber überschritten. Die Entstehung der menschlichen Erkenntnis kann im traditionellen naturwissenschaftlichen Verständnis nicht erklärt werden. Es bedarf also eines neuen Verständnisses der Evolution, um die evolutionäre Entstehung des Menschen zu verstehen.

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Gödel und die Evolutionstheorie

23. November 2009 - 10:37 Uhr

Die Menge unseres Wissens ist keine Enzyklopädie, in der die einzelnen Erkenntnisse wie Erbsen in einem Sack herumliegen und es gleichgültig ist, was sich wo befindet. Die Gesamtheit unserer Erkenntnis bildet vielmehr eine sinnvolle Ordnung, in der die einzelnen Elemente unseres Wissens bestimmten anderen Elementen auf bestimmte Weise zugeordnet sind. Diese Ordnung setzt uns in die Lage, diese Erkenntnis als Bild einer geordneten Welt zu benutzen, das es uns ermöglicht, uns in unserer Welt zu orientieren und unsere Aktionen zielstrebig zu steuern.

Diese Ordnung der Erkenntnis weist nun größere oder kleinere „Cluster“ auf, die jeweils Bereiche der Realität abbilden, wie Lebewesen, Wetter oder menschliche Werkzeuge. Diese Cluster sind nun relativ disjunkt, d.h. die Begriffe des einen Clusters eignen sich nicht zur Abbildung von Gegenständen eines anderen Clusters. So ist „Fortpflanzung“ ungeeignet zur Abbildung der Wolkenbildung. Beim Fehlen geeigneter Termini eines Clusters wird gelegentlich ein Terminus eines anderen Clusters benutzt, um gewisse Eigenschaften des zu beschreibenden Gegenstandes darzustellen. Das Bild des einen Gegenstandes wird dann als Metapher für das Abbild eines anderen Gegenstandes benutzt, In dieser Weise benutze ich hier beispielsweise das Wort „Cluster“.

Mit der Entstehung und Entwicklung der Wissenschaften sind die Cluster der umgangssprachlichen Erkenntnis zu den Gegenständen der verschiedenen Wissenschaften wie Physik, Biologie, Psychologie oder Linguistik geworden. In den Wissenschaften wurden die ursprünglichen Termini der umgangssprachlichen Erkenntnis präzisiert, umgestaltet, durch andere ersetzt und durch neue Termini ergänzt, die ihrerseits in verschiedener Weise ihren Weg zurück in die Umgangssprache gefunden haben und finden. Auf den Punkt gebracht hat diese Disjunktheit wissenschaftlicher Theorien Kurt Gödel mit der Formulierung des Unvollständigkeitssatzes. Dieser besagt, dass es in hinreichend mächtigen Systemen Aussagen geben muss, die man formal, d.h. innerhalb dieses Systems, mit dessen Mitteln weder beweisen noch widerlegen kann. Ein solcher Beweis ist nur in einer anderen Theorie möglich.

Da die Menschen nun ĂĽber mehrere solcher Erkenntnissysteme verfĂĽgen, pflegen sie bei der Beschreibung einer Erscheinung mĂĽhelos und meist unreflektiert zwischen verschiedenen Erkenntnissystemen zu wechseln.

So lässt sich zunächst problemlos die Aussage formulieren, dass es Konstellationen chemischer Entitäten geben kann, welche die Eigenschaften des Lebens wie Selbsterhaltung, Fortbewegung und die Fähigkeit zu zielstrebigen Bewegungen aufweisen. Die Termini, mit denen hier chemische Entitäten beschrieben werden, sind aber keine Termini der Chemie, sondern der Biologie und anderer Wissenschaften, die in der chemischen Theorie nicht definiert werden können und dort daher keine Bedeutung haben. Die Aussage ist von gleicher Art wie etwa die Aussage „Das Wasserstoffatom ist grün.“ Die Wörter für Farben sind keine Termini der Kernphysik.

Die Beschreibung der genannten Eigenschaften gewisser chemischer Entitäten nur mit Termini der Chemie ist jedoch nicht möglich. Dazu sind vielmehr Termini der Biologie erforderlich, die nicht aus denen der Chemie abgeleitet werden können sondern auf der Grundlege eigenständiger Wahrnehmungen neu gebildet werden müssen. Der Streit darum wird seit Jahrhunderten bis auf den heutigen Tag als Mechanismus-Vitalismus-Streit ausgefochten. Ein ähnlicher Streit tobt heute zwischen Psychologie und Neurophysiologie um die Frage, ob die psychischen Prozesse vollständig auf neurophysiologische Vorgänge zurückgeführt werden können oder nicht. Allgemein gesprochen geht es auf hier um das Problem es Reduktionismus, d.h. um die Frage, ob alle Erscheinungen der Welt in einer einzigen, einheitlichen Theorie abgebildet und erklärt werden können.

Die Anhänger des Reduktionismus begründen ihre Auffassung letztlich damit, dass ja die Welt eine einheitliche Welt sei, die auch in einer einheitlichen Theorie abgebildet werden kann. Diese Auffassung basiert letztlich und meist unreflektiert auf einem empiristischen Konzept der Erkenntnis, das Erkenntnis auf die Realität zurückführt. Betrachtet man die Erkenntnis als autonome und konstruktive Leistung eines tätigen Subjekts, wird diese Begründung gegenstandslos. Erkenntnis kann nicht durch die Eigenschaften der erkannten Realität erklärt werden, sondern nur durch die Bedürfnisse des tätigen Subjekts.

Da (menschliche) Erkenntnis nur durch Sprache (und andere Gegenstände der Kultur) ausgedrückt werden kann, kann die Frage nach der Möglichkeit einer einheitlichen Theorie nur durch die Untersuchung der Eigenschaften dieser Erkenntnismittel beantwortet werden. Etwas vereinfacht lautet diese Frage dann: “Können alle möglichen Sätze in einer einheitlichen Sprache abgeleitet und bewiesen werden?“

Versteht man den Gödelschen Unvollständigkeitssatz in einem solchen allgemeinen Sinn, dann heißt die Antwort „Nein“. Menschliche Sprache muss notwendig in Clustern organisiert sein, die nicht vollständig auseinander abgeleitet und bewiesen werden können.

Chemie, Biologie, Neurophysiologie, Psychologie usw. werden spezielle Fachsprachen verwenden, die nicht aufeinander zurückgeführt werden können. Damit aber ist ein neues Dilemma eröffnet: Wie kann dann eine Evolutionstheorie konstruiert und bewiesen werden, die ja den Übergang zwischen den in unterschiedlichen Erkenntnisclustern abgebildeten Realitätsbereichen behauptet? Leben entsteht danach aus chemischen Prozessen, Psyche aus neurophysiologischen Prozessen usw.

Bei der Erklärung solcher Prozesse muss immer der Übergang zwischen Theorien bewältigt werden, die in disjunkten Erkenntnisräumen abgebildet werden. Es geht also nicht darum, den Übergang zwischen unterschiedlichen Realitätsbereichen zu verstehen, sondern um den Übergang zwischen unterschiedlichen Erkenntnisbereichen mit unterschiedlichen Terminologien.

In den Naturwissenschaften führt dieser Umstand zu Problemen, die sich aus der Theorie der Evolution ergeben. Die Evolutionstheorie behauptet, dass sich Entitäten eine Realitätsbereichs aus Entitäten anderer Realitätsbereiche entwickelt haben. So soll Leben aus chemischen Prozessen, Psyche und Geist aus neurophysiologischen Prozessen hervorgegangen sein. Nicht einmal diese Fragen lassen sich hinreichend exakt formulieren, denn sie erfordern die gleichzeitige Anwendung von Termini unterschiedlicher Erkenntnisbereiche, die in dem jeweils anderen Erkenntnisbereich nicht definierbar sind wie etwa die Frage „Welche Farbe haben Atome?“.

Der Versuch, den Übergang von einem Realitätsbereich zu einem anderen innerhalb einer einheitlichen Theorie abzubilden, endet gewöhnlich in Konstrukten wie „Fulguration“, „Emergenz“ oder in irgendeiner Schöpfungstheorie.

Akzeptiert man jedoch den Gödelschen Unvollständigkeitssatz, dann kann man akzeptieren, dass Übergänge zwischen Realitätsbereichen mit in einer, sondern mindesten mit zwei Theorien abgebildet werden müssen. Es muss also die Frage beantwortet werden, wie der Übergang von einem Realitätsbereich zum anderen durch den Übergang von einer Theorie zur anderen abgebildet werden kann.

Dieser Übergang wird bewältigt durch eben die Aussagen, die in einer Theorie zwar gebildet, aber nicht bewiesen werden können. Nehmen wir als Beispiel die Entstehung des Lebens. In der Theorie der Chemie lässt sich die Aussage formulieren: „Leben ist ein chemischer Prozess, durch den sich mindestens ein Reaktionspartner unverändert erhält.“ Diese Aussage enthält kein Wort, das in der Fachsprache der Chemie nicht definierbar wäre. Der Beweis dieses Satzes jedoch erfordert Termini, die nicht Bestandteil der Fachsprache der Chemie sind, sondern der Fachsprache der Biologie entnommen sind und dort beispielsweise der Beschreibung der Orte dienen, an denen diese Prozesse stattfinden, z.B. „Ribosom“. Im Reagenzglas der Chemiker finden solche Prozesse nicht statt. Beim Übergang zwischen Begriffssystemen spielen →bivalente Begriffe eine besondere Rolle.

Wenn wir den Ăśbergang zwischen Theorien logisch und erkenntnistheoretisch beherrschten, bräuchten wir weder eine Weltformel noch Begriffe wie „Emergenz“, die unser Unwissen nur verbergen. Wir brauchen also nicht „eine „Theorie fĂĽr alles“, sondern fĂĽr jedes seine Theorie, die wir mit allen anderen logisch und semantisch widerspruchsfrei gestalten können ohne unsere Unkenntnis hinter Worten wie “Emergenz” usw, zu verbergen.

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Joachim Bauer und die Evolutionstheorie

20. Januar 2009 - 09:54 Uhr

Ich hätte nicht gedacht, dass „Das kooperative Gen“ von Joachim Bauer /1/ einen solchen Wirbel unter den Bloggern auslösen würde. Leider konzentriert sich die Debatte mehr um seinen Untertitel „Abschied vom Darwinismus“ als um das Wesen der Sache. Ich weiß ja nicht, was sich Bauer bei dieser wenig glücklichen Formulierung gedacht hat, Aufmerksamkeit hat er damit jedenfalls erreicht, den Anstoß zu einer ernsthaften Auseinandersetzung hat sie jedoch noch nicht gegeben. Nicht dass die „Autoren“ mancher Verunglimpfung nicht gelegentlich amüsant sein könnten, das intellektuelle Niveau der Debatte um die Evolutionstheorie haben sie nicht befördert.

Muss eigentlich jede Verteidigung des Darwinismus und der Evolutionstheorie darin bestehen, seine Kritiker zu diffamieren? Kann man nicht einmal die Frage erörtern, warum eine Kritik eines Darwinismuskritikers die bestehenden offenen Probleme der Evolutionstheorie nicht löst? Aber dazu müsste man anerkennen, dass die Evolutionstheorie offene Probleme hat. Damit meine ich nicht Detailprobleme innerhalb der Theorie, wie die Aufklärung des einen oder anderen Stammbaumes. Solche Probleme können gelöst werden, ohne die Grundlagen der aktuellen Theorie in Frage zu stellen.

Bauer greift aber eben diese Grundlagen an und eben das ist wohl der Grund für die heftige Reaktion. Die empirischen Daten, die er mitteilt und die von den verschiedensten Wissenschaftlern ermittelt wurden, sind wohl unbestritten. Bauer begeht aber das Sakrileg zu versuchen, diese Daten in ein anderes theoretisches System der Evolutionstheorie einzuordnen, weil er meint, dass das theoretische System der Mainstreambiologie ungeeignet zur Erklärung der Evolution ist.

Nun scheint es offensichtlich zu sein, dass die Entwicklung der Evolutionstheorie an einem Punkt angelangt ist, an dem die Frage nach der Weiterentwicklung der grundlegenden Theoreme der Theorie selbst ernsthaft diskutiert werden muss. Solche Phasen treten in der Entwicklung jeder weitreichenden wissenschaftlichen Theorie auf. Sie wurden von Wissenschaftstheoretikern wie Kuhn, Feyerabend oder Suchotin beschrieben. Das Theoriebewusstsein führender Evolutionstheoretiker scheint diesen Umstand jedoch noch nicht zu reflektieren. Die traditionelle Biologie versucht immer noch, auch „widerspenstige“ neue Daten in das traditionelle theoretische System der synthetischen Theorie einzuordnen /5/ oder möglichst nicht zur Kenntnis /6, 7/ zu nehmen. Nur in diesem Zusammenhang verstehe die teilweise wütende Reaktion auf Bauers Buch und gewisse Gegenreaktionen. Da nimmt sich Bauers Antwort vergleichsweise moderat aus.

Die Evolutionstheorie basiert auf zwei essentiellen Inputs: Mutation und Veränderung der Umwelt. Nur wenn beide Bedingungen gegeben sind, können sich durch Auslese Populationen und Arten verändern. Verändert sich die Umwelt nicht, führt auch keine Mutation zur Evolution, die Auslese wirkt stabilisierend, wie viele Mutationen auch stattfinden.

Diese beiden essentiellen Inputs werden in der Evolutionstheorie nun als zufällig angesehen, d.h. es können keine Ursachen angegeben werden, aus denen erklärt werden kann, welche Mutation oder welche Umweltveränderungen stattfinden wird. Nicht dass man für Mutation oder Umweltänderung keine Ursachen kennen würde, nur wirken diese in Bezug auf die zu erklärenden Evolution zufällig. Sie sind der zu erklärenden Evolution äußerlich und erklären sie so letztlich nicht. Die Evolutionstheorie ist also noch immer eine Theorie, die ihren Gegenstand zwar gut beschreibt, ihn aber nicht erklärt.

Mit diesem Zustand einer ihrer grundlegenden Theorien wollen sich immer mehr Biologen nicht abfinden. Sie suchen nach Möglichkeiten, Mutation und Umweltänderung aus dem Leben und seiner Evolution selbst zu erklären. Bei der Umweltänderung liegen inzwischen hinreichend viele Daten vor, die belegen, dass auch entscheidende Veränderungen der Umwelt von den Lebewesen selbst verursacht werden und so erklärbar sind. So ist die Erkenntnis, dass der Luftsauerstoff und der Erdboden Resultate der Tätigkeit der Lebewesen sind, inzwischen Lehrbuchwissen. In der Theorie der Evolution werden sie jedoch als Sonderfälle abgehandelt, während die fĂĽr die Evolution zufälligen geologischen Prozesse als die notwendigen Ursachen angesehen werden. Hier kann nur ein Paradigmenwechsel helfen, in dem die geologischen Prozesse nicht als notwendige, sondern als zufällige und die Evolution letztlich störende Ereignisse verstanden werden. Nur eine solche Theorie kann erklären, wie die Evolution als notwendige Form des Lebens selbst stattfinden kann und welche Umwege sie infolge zufälliger geologischer und kosmischer Ereignisse genommen hat. Interessante Gedanken zu diesem Aspekt findet man beispielsweise bei Morris „Life’s Solution“ /5/ oder in Gutmanns „Die Evolution hydraulischer Strukturen“ /6/

Entsprechendes gilt auch für den Faktor Mutation. Mutationen sollten nicht mehr als zufällige Fehler, sondern als notwendige Folgen des Lebens selbst dargestellt werden. Damit wird nicht gesagt, dass äußere Einwirkungen wie Strahlung oder Wärme keine Mutation auslösen können, sie sind aber keine wirklich erklärenden Faktoren, sondern stören das Verständnis der Mutation als Eigenschaft des Lebendigen nur. In die Bemühungen um ein solches Verständnis ordne ich Bauers „kooperatives Gen“ /1/ ein, aber auch beispielsweise „Die Lösung von Darwins Dilemma“ von Kirschner und Gerhart /7/.

Bei jedem Versuch, ein verbreitetes Paradigma, zu verlassen, steht man nun vor der Frage „Wie sag ich´s?“. Die Terminologie des aktuellen Paradigmas ist meist nicht geeignet, sondern deren Benutzung führt in der Regel dazu, dass das Neue nicht mehr darstellbar ist, weil der Leser es in seiner traditionellen Lesart rezipiert. Neue Termini werden nicht nur oft missverstanden, sondern bleiben oft auch unverstanden und sind den verschiedensten, manchmal auch bösartigen Unterstellungen ausgesetzt, zumal der Autor auch selbst noch oft mit dem Worte ringt.

Die Frage, wer denn nun die Evolution nicht versteht, Bauer oder Meyer, scheint mir noch offen. Das Problem, um das es – jedenfalls mir - wirklich geht, ist einer gründlicheren Diskussion wert.

15.2.2009: Nachtrag
Im Blog “Studium generale” gibt es eine umfangreiche Berichterstattung zu Simon Conway Morris.

 

/1/ Bauer, Joachim (2008): Das kooperative Gen * Abschied vom Darwinismus, Hoffmann u.Campe, Hamburg
/2/ Kuhn, Thomas S. (1973): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main
/3/ Feyerabend, Paul (1986): Wider den Methodenzwang, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, ZĂĽrich
/4/ Suchotin, Anatoli Konstantinowitsch (1980): Kuriositäten in der Wissenschaft, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Zürich
/5/ Morris, Simon Conway (2003): Life’s Solution / Inevitable Humans in a Lonely Universe, Cambridge University Press, New York und Melbourne (deutsch: Morris, Simon Conway (2008): Jenseits des Zufalls * Wir Menschen im einsamen Universum, University Press, Cambridge)
/6/ Gutmann, Wolfgang Friedrich (1995): Die Evolution hydraulischer Strukturen * Organismische Wandlung statt altdarwinistischer Anpassung, University Press, Cambridge
/7/ Kirschner, Marc. W.; Gerhart, John C. (2007): Die Lösung von Darwins Dilemma

 

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Schuld sind immer die Anderen

27. September 2008 - 15:36 Uhr

In den wissenschaftlichen Blogs gibt es vor allem im Zusammenhang mit der Evolutionstheorie eine andauernde Diskussion ĂĽber die Religionen. Nicht selten wird verwundert zur Kenntnis genommen, welchen z.T. auch wachsenden Einfluss die Religionen auf das Denken der Menschen haben. Ăśber die Ursachen wird nur selten reflektiert wie beispielsweise bei “Evil under the Sun“. Wenn, dann sind es immer die Anderen: reaktionäre Politiker, religiöse Fundamentalisten, Kreationisten oder verdummende Webseiten. In keinem Fall ist es die Evolutionstheorie selbst, die manche Menschen davon abhalten könnte, an die Evolution zu glauben.

Seien wir ehrlich: die meisten Menschen – und damit meine ich nicht nur Einwohner Lateinamerikas, Indien oder Afrikas, die millionenfach einfach keinen Zugang zu wissenschaftlichem Unterricht haben. Auch in Deutschland hat kaum jemand die Möglichkeit, all die „Beweise“ für die Evolution, die er in seinem Biologielehrbuch gelesen hat, wirklich zu prüfen. Er muss sie seinem Biologielehrer und anderen Personen seines Bekanntenkreises einfach glauben. Und glauben hängt mit Vertrauen zusammen, ich glaube dem, dem ich vertraue. Weiter Schlüsse daraus liegen auf der Hand, wenn man beispielsweise die Bildungsdiskussion in unserem Lande bedenkt.

Ich will jedoch einen anderen Aspekt dieses Problems darstellen. In „Evil under the Sun“ habe ich interessante Statistiken zur Religiosität in Deutschland gefunden. Unter anderen glauben 70% der Befragten (1000-2000 über 18J. Allensbach) an eine Seele. Unter den Werten, die für die befragten wichtig sind, kommt religiöser Glaube mit 18 bis 20% vor, eine wissenschaftliche Weltauffassung wird jedoch nicht als Wert genannt.

Die westliche wissenschaftliche Weltanschauung ist bekanntlich vom Paradigma der Kausalität geprägt, demzufolge jedes Ereignis eine äußere Ursache hat, auf die es zurückzuführen ist. Akausale Ereignisse, Ereignisse ohne Ursache, sind in diesem Denkschema nicht zugelassen. Deshalb kommen Entitäten wie eine Seele oder Ideen in diesem Gedankensystem nicht vor. Ihre Existenz wird verneint und nicht selten verächtlich als „unwissenschaftlich“ abgetan. Naturwissenschaftler werden nicht Seelsorger – schade!

So aber werden die Fragen der Menschen nicht beantwortet, das BedĂĽrfnis nach einer wissenschaftlichen Antwort bleibt unbefriedigt. Damit finden sich die Menschen aber ebenso wenig ab wie mit anderen unbefriedigten BedĂĽrfnissen, sie suchen nach Befriedigung ihrer BedĂĽrfnisse. Menschen wollen eine Seele haben und sich nicht als seelenloses Fleisch sehen, sie wollen nicht das Resultat eines blinden Zufalls sein sondern einen Sinn in ihrer Existenz sehen. Und wenn sie Antworten auf ihre Fragen nicht in der Wissenschaft finden, suchen sie diese eben anderswo.

Das kann sich erst ändern, wenn auch die Naturwissenschaft Antworten auf Fragen wie diese geben wird. Das aber ist nicht im Rahmen des Kausalitätsparadigmas möglich. Das Problem ist, das die Naturwissenschaft sich diesen Umstand nicht eingesteht und nicht einfach zugibt, dass es zwischen Himmel und Erde auch Dinge gibt, die sie innerhalb ihrer kausalistischen Schulweisheit nicht unterbringen kann. Im Gegenteil, sie hat es verstanden, auch empirische Daten, die sie selbst gewonnen hat und die mit dem Kausalitätsparadigma nicht zu vereinbaren sind, so zu „interpretieren“ dass sie „passen“, oder sie zu „unterschlagen“, anstatt darüber nachzudenken, was sie zur Lösung dieses Problems beizutragen.

Anekdote Beim Kolportieren der bekannten Newton-Anekdote, nach der ihm das Gravitationsgesetz eingefallen ist, als ihm ein Apfel auf den Kopf gefallen war, wird der Vogel unterschlagen, der ganz entgegen der Gravitation von allein wegflog.

 

In dem Maße, in dem sich das Kausalitätsparadigma zum Paradigma wissenschaftlicher Arbeit überhaupt entwickelte, wuchs auch die Menge der Daten, die nicht mit ihm vereinbar waren und die auf die eine oder andere Weise eingepasst werden musste. Dabei wurde viel Fantasie entwickelt, um die kausalistische Unerklärbarkeit gewisser Ereignisse zu verschleiern. Begriffe wie „Zufall“ oder „Emergenz“ erhielten so den Charakter einer letzten „Erklärung“, denn was als zufällig „erkannt“ war, entzog sich jeder weiteren Forschung, denn der Zufall ist ebenso wenig erforschbar wie die Emergenz.

Bereits vor 100 Jahren hat Uexküll darauf hingewiesen, dass „ein neues Gerüst für die Biologie notwendig“ würde, denn „das bisherige Gerüst, das man der Chemie und der Physik entliehen hatte, genügte nicht mehr.“ /1/ Vor rund 50 Jahren haben Bertalanffy mit dem Begriff des „Fließgleichgewichts“ und später Prigogine mit dem Begriff der „dissipativen Struktur“ das Gerüst der Physik entscheidend weiter entwickelt, so dass nun biologische Probleme lösbar wurden, die bis dahin unlösbar waren.

Gegenwärtig steht das Paradigmata des Darwinismus auf dem Prüfstand. Damit sind nicht die unqualifizierten Angriffe des Kreationismus und des ID gemeint, die keiner ernsthaften Erörterung würdig sind. Gemeint sind beispielsweise Biologen wie Morris /1/, Kirschner /2/ oder Bauer /3/. Aber auch Physiker wie zum anderen Physiker wie Greene /4/, Laughlin /5/ oder Genz /6/ im Rahmen der Diskussion um die „Weltformel. Die Überlegungen der Physiker kann kurz gesagt vielleicht so zusammengefasst werden: Wenn es eine Weltformel gibt, dann sind alle Ereignisse im Weltall berechenbar. Sie sind also nicht zufällig, sondern unvermeidlich. Das gilt auch für die Evolution der Lebewesen und des Menschen. Auch er ist nicht zufällig, sondern unvermeidlich.

Die biologische Kritik des darwinistischen Paradigmas setzt auch nicht an noch ungelösten Detailproblemen an, die auch innerhalb des Paradigmas gelöst werden können, sondern am Paradigma selbst. Bei der empirischen Forschung werden immer auch Details gefunden, die mit dem herrschenden Paradigma zumindest nicht ohne „Anpassung“ verträglich sind. Gewöhnlich werden solche Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung als Anomalien oder Ausnahmen verbucht (was in der Biologie besonders nahe liegt). Im Laufe der Zeit wächst aber die Anzahl solcher Ausnahmen und Anomalien, so dass der Versuch unternommen werden muss, das Paradigma weiter zu entwickeln und den neuen Tatsachen anzupassen.

Passend zum Darwinjahr 2009 sind einige Bücher erschienen, welche das Dilemma des „Mainstreamdarwinismus“ artikulieren. Schon die Titel zeigen dies an: „Jenseits des Zufalls (Morris), „Die Lösung von Darwins Dilemma“ (Kirschner) und „Das kooperative Gen * Abschied vom Darwinismus“ (Bauer). Die moderne „synthetische Evolutionstheorie“ beruht in ihren beiden Grundbegriffen auf der Kategorie „Zufall“. Zufällige Mutationen bringen veränderte Individuen hervor, die in einer sich zufällig ändernden Umwelt der Auslese unterliegen. Da der Zufall nichts erklärt, muss man nun glauben, dass diese zufälligen Faktoren die Evolution von einfachsten Einzellern zum intelligenten Menschen „verursachen“, die nahezu die gesamte Erde besiedeln.

Morris ist Paläontologe und zeigt an paläontologischem Material die Konvergenz der Evolution, die beim besten Willen nicht mit einer auf Zufällen beruhenden Evolutionstheorie vereinbar ist. Kirschner und Bauer zeigen dies an Ergebnissen der Molekularbiologie und Genetik. Hier werden neue gedankliche Rahmen vorgeschlagen, die geeignet sind, die vorliegenden empirischen Daten zu einem Denksystem zu ordnen, ohne sich schließlich doch auf den Zufall als letzte „Erklärung“ zurückzuziehen. Deshalb ermöglichen sie auch andere wissenschaftliche Antworten auf Fragen nach dem Ursprung der Menschheit, seiner Stellung in der Welt u.ä., welche die Erkenntnisbedürfnisse der Menschen in einer Weise befriedigen, die sie nicht mehr in die Fänge religiösen Denkens oder esoterischer Praktiken treibt. Nicht religiöse Eiferer und Dummheit sind dafür verantwortlich, sondern die Unfähigkeit der Wissenschaft, die wirklichen Fragen der Menschen zu beantworten.

Am deutlichsten zeigt sich das in der Diskussion um den freien Willen, von dem die kausalistische Neurophysiologie meint experimentell bewiesen zu haben, es gäbe ihn gar nicht. In der Neurophysiologie sind mir allerdings keine Arbeiten bekannt, die auch Kritik an ihren grundlegenden Paradigmen äußern. Wenn Kritik kommt, dann von „außerhalb“ aus der Psychologie, die allerdings nur bestreitet, dass die Neurophysiologie die Probleme von Psyche und Seele lösen könnte und es dabei belässt. Auch in diesem Bereich lassen die Wissenschaften die Menschen mit ihren Problemen allein und mokieren sich über die Unwissenheit der Menschen, in die wir sie erst versetzt haben. Die Wissenschaft kann offensichtlich ohne Seele existieren, die meisten Menschen offensichtlich nicht.

Man muss sich nur einmal die die Menschenmassen vergegenwärtigen, täglich als Pilger der verschiedensten Religionen ihrer Seele wegen unterwegs sind, um ihrem Glauben zu folgen Erkennen wir die Brisanz, die darin liegt, dass die Wissenschaften in ihrer Befangenheit des kausalistischen paradigmatisch verharren und den Menschen, die sie bezahlen, Antworten auf ihre berechtigten Fragen verweigern?

Es hilft auch nicht, die unbestreitbare Unvereinbarkeit von Wissenschaft und Religion zu beschwören. Es gilt alle Fragen der Menschen zu beantworten und nicht nur die, die in das aktuelle Paradigma Wissenschaft und die anderen als „erfunden“ abzutun. Neue Paradigmata tun not!

 

 

/1/ Morris, Simon Conway (2003): Life’s Solution / Inevitable Humans in a Lonely Universe, Cambridge University Press, New York und Melbourne Deutsch: Morris, Simon Conway (2008): Jenseits des Zufalls * Wir Menschen im einsamen Universum, University Press, Cambridge
/2/ Kirschner, Marc. W.; Gerhart, John C. (2007): Die Lösung von Darwins Dilemma
/3/ Bauer, Joachim (2008): Das kooperative Gen, Hoffmann u.Campe, Hamburg
/4/ Greene, Graham (2006): Das elegante Universum, Wilhelm Goldmann Verlag, MĂĽnchen
/5/ Laughlin, Robert B. (2007): Abschied von der Weltformel, Piper & Co. Verlag, MĂĽnchen, ZĂĽrich
/6/ Genz, Henning (2006): War es ein Gott?, Carl Hanser Verlag, MĂĽnchen Wien,

 

 

 

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Subjekt und Instinkt II

29. Juli 2008 - 09:47 Uhr

Eine subjektwissenschaftliche Biologie erfordert zwingend die Annahme, dass die Tiere über die Fähigkeit zur autonomen Steuerung verfügen. Sie müssen fähig sein, ihre Aktionen unabhängig von äußeren Einwirkungen, von „Reizen“ zu steuern. Solche auch „Instinkte“ genannten autonomen Steuermechanismen müssen angeboren sein, d.h. sie müssen genetisch determiniert sein und der Evolution unterliegen.

Ihre Existenz ist zwar unzweifelhaft, ihre Bedeutung für die biologische Theorie ist jedoch umstritten. Für eine reduktionistische Biologie, welche die Lebewesen als Objekte auffasst, die letztlich ausschließlich durch Gesetze von Physik und Chemie erklärbar sind, ist der Instinktbegriff ein störendes Element, das möglichst aus der biologischen Theorie entfernt werden sollte. Dieser Trend ist für die heutige Mainstreambiologie kennzeichnend und mit dem Terminus „Behaviorismus“ hinreichend charakterisiert.

Dieser „objektwissenschaftlichen“ Biologie ist die Position entgegengesetzt, in welcher die Lebewesen als Subjekte aufgefasst werden. Subjekte werden nicht durch äußere Einwirkungen determiniert, auf die sie in berechenbarer Weise reagieren. Sie agieren vielmehr aus sich heraus. Eine solche „subjektwissenschaftliche“ Biologie hat die Aufgabe, die Determination dieser subjekteigenen Aktionen zu erforschen, die nicht mehr kausal, „objektiv“, sondern akausal, „subjektiv“ determiniert ist. Die Determination der subjektiven Aktionen durch die Subjekte, das ist der Forschungsgegenstand einer subjektwissenschaftlichen Biologie.

Der Erste, der diese Forderung expressis verbis formuliert hat, war Jacob von UexkĂĽll.

Er unterschied die Umgebung, die aus Objekten besteht von der Umwelt, die aus Gegenständen besteht, die von der Beschaffenheit der Lebewesen, der Subjekte bestimmt wird. Die Umwelt unterliegt in dieser Theorie also nicht mehr der physikalischen Zufälligkeit, wie die Objekte, sondern dem Prinzip der „Planmäßigkeit“, das von der Biologie zu erforschen ist, Die Aktionen der Subjekte richten sich nicht auf die Objekte, sondern auf die Gegenstände der Umwelt, die vom agierenden Subjekt planmäßig determiniert sind.

In diesem Konzept hatte nun das Prinzip  der Anpassung keinen Platz, denn dieses Prinzip unterwirft das Lebewesen ja den Einwirkungen einer Umwelt, die ja in UexkĂĽlls Theorie erst von dem jeweiligen Lebewesen bestimmt wurde. Aus dieser Position zog UexkĂĽll nun einen Schluss, der sich fatal auf die weitere Rezeption seiner Ideen und damit auf die Entwicklung der Biologie als Subjektwissenschaft auswirken sollte, denn aus ihr folgte fĂĽr ihn logisch zwingend die Ablehnung des Darwinismus, und das in einer Zeit, in der dieser nicht nur die Biologie, sondern auch die Stammtische erobert hatte. FĂĽr UexkĂĽll folgte aus seiner subjektwissenschaftlichen Theorie der Biologie, der Darwinismus sei…

  „…weiter nichts als die Verkörperung des Willensimpulses, die Planmäßigkeit auf jede Weise aus der Natur loszuwerden.“/1/„Der Enthusiasmus, mit dem sich die Darwinisten fĂĽr den Entwicklungsgedanken einsetzen, entbehrt nicht einer gewissen Komik, nicht bloĂź darum, weil ihre Weltanschauung, die sich prinzipiell auf Physik und Chemie stĂĽtzt, aus diesen Wissenschaften den Entwicklungsgedanken gar nicht schöpfen kann, da Chemie und Physik jede Entwicklung prinzipiell ablehnen. Sondern vor allem deswegen, weil das Wort Entwicklung gerade das Gegenteil dessen ausdrĂĽckt, was damit gemeint ist.“/2/ 

Mit dieser Position konnte sich später kein Biologe mehr identifizieren, der ernst genommen werden wollte. Das führte dazu, dass Uexkülls biologische Theorie nicht nur sehr fragmentarisch sondern vor allem ihres subjektwissenschaftlichen Gehalts beraubt rezipiert wurde. Das gilt besonders für den Umweltbegriff, der als einziger Begriff des von Uexküll entwickelten Kategoriensystems allgemein (wenn auch in „kastrierter“ Form) rezipiert wurde.

Während Uexküll eine umfassende subjektwissenschaftliche Theorie der gesamten Biologie vorgelegt hatte, beschränkte sich Konrad Lorenz, einer von Uexkülls Verehrern, auf den verhaltenswissenschaftlichen Aspekt. So konnte er seine Kritik  auf die verhaltensbiologische Richtung der kausalistischen Biologie, den Behaviorismus beschränken, ohne Uexküll kritisieren zu müssen. In der Auseinandersetzung mit dem Behaviorismus spielte der Instinktbegriff eine besondere Rolle, denn die Existenz von Instinkten wurde und wird vom Behaviorismus bestritten.

Lorenz´ Arbeit am Instinktbegriff war daher auch der Versuch, in der Verhaltensbiologie im Gegensatz zum Behaviorismus eine subjektwissenschaftliche Position zu etablieren. Er hat gezeigt, dass der Instinktbegriff als Konzept der autonomen Steuerung tierischer Aktionen geeignet ist und nicht im Widerspruch zur Evolutionstheorie stehen muss. Die Evolution der Lebewesen kann auch als Evolution von Subjekten verstanden werden. Er zeigte, dass Instinkte genetisch determiniert sind und folglich wie die Organe der Lebewesen den Gesetzen der Evolution unterliegen. Er schreibt:

 “Niemand kann leugnen, daĂź die phylogenetische Veränderlichkeit einer Instinkthandlung sich so verhält wie diejenige eines Organes und nicht wie diejenige einer psychischen Leistung. Ihre Veränderlichkeit gleicht so sehr derjenigen eines besonders „konservativen“ Organes, daĂź der Instinkthandlung als taxonomischem Merkmal sogar ein ganz besonderes Gewicht zukommt“./3/ 

Von besonderer Bedeutung ist dabei die Frage nach der Bedeutung der Umwelt.

 „Wir haben es nie zu bereuen gehabt, daß wir die Veränderlichkeit der Instinkthandlung durch Erfahrung rundweg geleugnet haben und folgerichtig den Instinkt wie ein Organ behandelt haben, dessen individuelle Variationsbreite bei allgemeiner biologischer Beschreibung einer Art vernachlässigt werden kann. Diese Auffassung widerspricht nicht der Tatsache, daß manchen Instinkthandlungen eine hohe regulative „Plastizität“ zukommen kann. Eine solche haben auch viele Organe.“/4/„Wenn man nicht den Begriff des Lernens ganz ungeheuer weit fasst, so daß man etwa auch sagen kann, die Arbeitshypertrophie eines vielbenützten Muskels sei ein Lernvorgang, so hat man durchaus kein Recht, die Beeinflussung des Instinktes durch Erfahrung zu behaupten.“/5/ 

Vor allem diese Position war es, die von Seiten des Behaviorismus immer wieder angegriffen wurde, der nach wie vor darauf besteht, dass das Verhalten von Tieren (und Menschen) durch die Einwirkungen der Umwelt determiniert wird.. Da es eine subjektwissenschaftliche Methodologie nicht gab (und bis heute nicht gibt), wurden zum Zwecke der Kritik die subjektwissenschaftlichen Thesen mit den Methoden objektwissenschaftlicher Forschung untersucht/6/. Dass dazu die subjektwissenschaftlichen Thesen ihres spezifischen Gehalts beraubt und in das objektwissenschaftliche Gedankensystem transformiert werden mussten, blieb unreflektiert. So teilte Lorenz /7/ schlieĂźlich das Schicksal UexkĂĽlls.

Die experimentell orientierte, objektwissenschaftliche Mainstreambiologie hat auf diesem Wege die subjektwissenschaftlichen Fragen zwar nicht beantwortet, aber aus ihrem Ideenbestand eliminiert. Die aktuelle Debatte um den freien Willen ist dafür Zeugnis genug. Im Kategoriensystem der reduktionistischen Biologie ist kein Platz für diesen, deshalb kann man ihn auch nicht erforschen - auch wenn er sich immer wieder und der Kausalität trotzend ungefragt in die Debatte einmischt.

 /1/ Uexküll, Jacob von (1928): Theoretische Biologie, Springer J., Berlin, S. 197/2/ Ebenda, S. 196

/3/ Lorenz, Konrad (1992): Ăśber tierisches und menschliches Verhalten - Gesammelte Abhandlungen I, Piper & Co.Verlag, MĂĽnchen, ZĂĽrich, Bedeutung. I, S.274

/4/ Ebernda, S.273.

/5/ Ebenda, S. 274

/6/ Vgl z.B. Zippelius, Hanna-Maria (1992): Die vermessene Theorie, Vieweg oder G. Roth (Hrsg.) (1974): Kritik der Verhaltensforschung, C.H. Beck.

/7/ Lorenz steht hier verallgemeinert für eine ganze Anzahl von Wissenschaftlern (z.B. v. Holst, Mittelstaedt, Leont´ev, Anochin), die verschiedene Aspekte einer subjektwissenschaftlichen Biologie entwickelt hatten, heute aber (mit Ausnahme von Leont´ev) vorwiegend von historischer Bedeutung sind.

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Freier Wille

15. Mai 2008 - 10:56 Uhr

Die Diskussion um den freien Willen erhält durch immer neue neurophysiologische Experimente nach dem Muster Libets immer wieder neue Nahrung. Längere Diskussionen findet man beispielsweise in „Medlog“, „Der Quantenmechaniker“, in „Brights – Die Natur des Zweifels“ oder „Neurowissenschaften“.

Beim Lesen der einzelnen Beiträge fällt mir die mangelnde Tiefe des verwendeten Begriffs des freien Willens auf. Dieser Begriff steht ohne Einordnung in eine Hierarchie und ohne Bezüge zu etwaigen nebengeordneten Begriffen nahezu frei im Raum. Kategorien wie etwa „Wille“ ohne prädikative Bestimmung, oder die umgangssprachlich üblichen Formulierungen „eigener“ oder „fremder“ Wille spielen in der Diskussion keine Rolle. Mehrfach wird in verschiedenen Blogs die Frage nach einer Definition des Begriffs des freien Willens gefragt, manchmal wird auf später vertröstet, meist aber verhalt sie in den Weiten der Blogwelt. Gelegentlich wird als die dem freien Willen nebengeordnete Kategorie „Determination“ genannt, wobei auch diese nur als „Kausalität“ verstanden wird. Andere Formen der Kausalität werden nicht erörtert und der Gedanke, der Wille könnte auch als spezifische Form von Determiniertheit verstanden werden, liegt ganz außerhalb des Denkbaren. In dieser Form kann der freie Wille nur als akausal verstanden werden und muss in die Gefilde der Metaphysik verwiesen werden.

 

Was die theoretische Tiefe betrifft, muss zum ersten angemerkt werden, das in der Regel Erörterungen dazu fehlen, wessen Prädikat der freie Wille sein soll. Ist der freie Wille eine Eigenschaft des menschlichen Gehirn oder eines Teils davon? Ist er vielleicht die Eigenschaft eines bestimmten neurophysiologischen Prozesses? Oder ist er eine Eigenschaft des Menschen als Ganzes? Kann der Mensch diese Eigenschaft allein oder nur in Gesellschaft, in Gemeinschaft mit anderen entwickeln? Ist der freie Wille also eine soziale Kategorie, die (auch) soziologisch zu erforschen ist?

Und schließlich ist zu fragen, wie sich diese Eigenschaft entwickelt hat. Gibt es biologische Vorformen des Willens, die sich im Verlauf der Evolution allmählich zum freien Willen entwickelt haben?

In der Biologie tritt die Frage nach dem Willen in Gestalt der Diskussion um den Behaviorismus auf. Bereits Lorenz hat kritisiert, dass“… niemand unter den Mechanisten je nachsah, was die Tiere, sich selbst ĂĽberlassen, tun, konnte auch unmöglich einer von ihnen bemerken, daĂź sie spontan, d.h. ohne Einwirkung äuĂźerer Reize, nicht nur etwas, sondern sogar sehr vielerlei tun.“[1] Im Unterschied zu den Experimenten des frĂĽhen Behaviorismus wird den Menschen nun gesagt, zwischen welchen Entscheidungen zu wählen haben. Was sie ohne diese Aufforderung freiwillig täten, bleibt offen.

Wenn man nach der evolutionären Herkunft des Willens sucht, sollte man Konzepte aufgreifen, die Tätigkeiten von Tieren untersuchen, die diese aus sich heraus vollziehen. „Spontanes Verhalten“, „Trieb“ oder „Instinkt“ sind Termini, die Prozesse beschreiben, die Vorläufer menschlicher Willenshandlungen sein könnten. Wenn nicht die, welche dann? Und Björn Brembs von der FU Berlin scheut sich nicht, bei dem von ihm experimentell untersuchten spontanen Verhalten von Taufliegen einen eigenen Willen zumindest für möglich zu halten.

Solange die Mainstreambiologie willentliches Verhalten bei Tieren ausschließt, kann der freie Wille des Menschen nicht evolutionär erklärt werden. Er kann nur  aus einem unbekannten Nichts plötzlich über den Menschen kommen oder seinem biotischen Träger durch einen Schöpfer verliehen werden. Aber, so muss man dann fragen, kann freier Wille überhaupt geschaffen werden? Könnte man also eine Maschine bauen, die über einen freien Willen verfügt? Kann ein verliehener (geborgter) Wille freier Wille sein?

Es ist klar, dass diese Fragen durchaus unterschiedlich beantwortet werden können. Aber die Antwort, die der Einzelne gibt, bestimmt, was die Experimente sagen, über die aktuell diskutiert wird. Zunächst muss das theoretische Konzept klar sein, aus dem die Hypothesen abgeleitet wurden, die durch die experimentellen Daten verifiziert werden sollen. Solange es beliebig ist, in welchen theoretischen Zusammenhang experimentell gewonnene Daten gestellt werden, ist auch ihr theoretischer Wert beliebig. Sie beweisen und widerlegen nichts. Sie sind „schlimmstenfalls noch nicht einmal falsch“ [2].

 

[1] Lorenz, Konrad (1992): Ăśber tierisches und menschliches Verhalten - Gesammelte Abhandlungen II, S.129

[2] Laughlin, Robert B. (2007): Abschied von der Weltformel, Piper & Co. Verlag, MĂĽnchen, ZĂĽrich, S. 248f.

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Antitheorie Darwinismus

5. Februar 2008 - 11:23 Uhr

Die harscheste Kritik am Darwinismus, die mir in letzter Zeit begegnete, ist die von Robert B. Laughlin, Nobelpreisträger 1998 für Physik in seinem Buch „Abschied von der Weltformel“.

In diesem Buch geht es um den Streit um den Reduktionismus, jene wissenschaftliche Grundhaltung, nach der die Gesetze der verschiedenen Bereiche der Welt letztlich auf  einfache Gesetze der Physik zurückgeführt und aus diesen abgeleitet werden können. War einst (neben der Religion) der Vitalismus die bedeutendste erkenntnistheoretische Alternative des Reduktionismus, so nimmt heute die Emergenz die Stelle der „Vis vitalis“ ein.

Die gemeinsame Grundlage dieses Streits ist die Vorstellung von einer hierarchischen Organisation der Natur in Schichten oder Ebenen, die klar unterscheidbare Bereiche bilden, in denen spezifische Gesetzen gelten, die für genau diesen Bereich zutreffen. Die Frage ist nun, ob zwischen den Gesetzen dieser unterschiedlichen Bereiche oder Schichten Beziehungen der Art gelten, dass die Gesetze des einen  Bereichs aus denen eines anderen (des „grundlegenden“) abgeleitet werden können. Der Reduktionismus beantwortet diese Frage mit einem klaren „Ja“, der Emergentismus mit einem ebenso klaren „Nein“.

Es liegt auf der Hand, dass der Streit entschieden werden könnte, indem die „Weltformel“ gefunden wird und eine gĂĽltige (was immer das sein mag) „Theory of Everything“ (TOE) formuliert ist. Bis dahin kann jeder an seine Antwort nur glauben und die andere als „ideologisch“ abtun. Laughlin meint daher, „…dass ein groĂźer Teil des heutigen biologischen Wissens ideologischer Natur ist. Ein Leitsymptom fĂĽr ideologisches Denken ist die Erklärung, die nichts impliziert und nicht getestet werden kann. Ich be­zeichne solche logischen Sackgassen als Antitheorien, weil sie sich genau gegenteilig auswirken wie richtige Theorien: Sie lassen das Denken zum Stillstand kommen, statt es anzure­gen. Beispielsweise fungiert die von Darwin ursprĂĽnglich als groĂźartige Theorie entworfene Lehre von der Evolution durch natĂĽrliche Selektion in jĂĽngster Zeit eher als Antitheorie. Man zieht sie heran, um peinliche experimentelle Mängel zu ver­bergen und Befunde zu legitimieren, die bestenfalls fragwĂĽr­dig und schlimmstenfalls »noch nicht einmal falsch« sind. Ihr Protein trotzt den Massenwirkungsgesetzen? Das ist das Werk der Evolution! Ihr komplizierter Mischmasch aus chemischen Reaktionen verwandelt sich in ein HĂĽhnchen? Evolution! Das menschliche Gehirn arbeitet nach logischen Prinzipien, die kein Computer nachahmen kann? Ursache ist die Evolution!“ [1] Es geht ihm also nicht um den Darwinismus an sich, was er ist, sondern darum, welche Gestalt dieser heute vielfach angenommen hat, als was er heute „fungiert“. In dieser Form werden mit dem Darwinismus oft Erklärungen vorgetäuscht, wo er keine gibt. Eine umfassende Debatte um die Erklärungsdefizite der Evolutionstheorie findet in der Biologie nur am Rande statt.[2] Umso lebhafter bemächtigen sich Kreationismus und ID dieses Umstands.

Seit Darwin haben die Naturwissenschaften umfangreiche Fortschritte gemacht, durch die wir die Grundlagen des Darwinismus, Mutation und Auslese weitaus tiefer verstehen als Darwin und seine Zeitgenossen. Dadurch wurde aber auch immer deutlicher, worin die Erklärungsdefizite der darwinistischen Evolutionstheorie bestehen. Die „Inputs“ der beiden grundlegenden Kategorien dieser Theorie, Mutation und Auslese sind nicht Gegenstände der Evolutionstheorie, sondern anderer Theorien. Deshalb sind sie in der biologischen Theorie, als biologische Prozesse letztlich unverstanden und können daher die Evolution nicht erklären. Diese Tatsache verschleiert die Biologie, indem sie den Zufall als theoretische Kategorie eingeführt haben. Dazu habe ich hier schon einmal gepostet.

 

Ăśber den Zufall als wissenschaftliche Kategorie schreibt Gerhard Vollmer im Online-Lexikon des Spektrumverlages:

„FĂĽr den wissenschaftlichen Sprachgebrauch muĂź der Zufallsbegriff präzisiert werden. Dabei sind verschiedene Bedeutungen zu unterscheiden…:- Ein Ereignis ist objektiv zufällig, wenn es keine Ursache hat.- Ein Ereignis ist subjektiv zufällig, wenn wir dafĂĽr keine Erklärung haben und auch keine erwarten.

Beiden Begriffen gemeinsam ist die Tatsache, daĂź das Geschehen, soweit wir wissen, auch anders oder gar nicht ablaufen könnte, daĂź es nicht determiniert, nicht „naturnotwendig“ war. … Während aber der objektive Zufallsbegriff die Struktur der Welt beschreibt, bezieht sich der subjektive auf unser Wissen. Zwischen beiden besteht natĂĽrlich ein Zusammenhang: FĂĽr ein ursachloses Ereignis gibt es auch keine Erklärung.

[…]

Zufällig im objektiven Sinne ist aber auch das Zusammentreffen vorher unverbundener Kausalketten. … der Hammer des Dachdeckers fällt (ohne böse Absicht) dem vorĂĽbereilenden Arzt auf den Kopf; ein Gammaquant vom Fixstern Sirius löst in einem Chromosom eine Mutation aus. Obwohl jede einzelne Kausalkette in sich geschlossen und vielleicht vollständig erklärbar ist, bleibt doch das Zusammentreffen dieser lĂĽckenlosen Kausalketten ohne direkte Ursache, also auch ohne Erklärung; es ist zufällig.“ [3]

Diese Form des Zufalls nennt Vollmer „relativer Zufall“

Die Zufälligkeit der Evolutionstheorie ist von dieser Art. Die bekannten Ursachen von Mutationen und von Veränderungen der Umwelt, welche die Richtung der Selektion bestimmen, werden in eigenständigen, nichtbiologischen theoretischen Systemen beschrieben. Ihre Ereignisse sind in Bezug auf die Evolution zufällig.

Die Evolutionstheorie muss sich vielmehr der folgenden Frage stellen:

Käme es auch ohne diese zufälligen Einwirkungen der Umwelt zur Evolution des Lebens?

Wie wäre sie in diesem Fall verlaufen? – Hätte sie z.B. auch zu intelligenten gesellschaftlichen Wesen geführt? Erst mit der Beantwortung dieser Fragen wäre die Evolutionstheorie zu einer Theorie geworden, welche die Evolution auch erklärt.

Für mich ist die reduktionistische Antwort auch die spannendere. Vom Standpunkt der Emergenztheorie aus könnte ich den Reduktionisten nur beim Forschen zusehen und hoffen, dass sie erfolglos bleiben, denn nur so könnte ich im Recht bleiben – unbefriedigend!

  

[1] Laughlin, Robert B. (2007): Abschied von der Weltformel, Piper & Co. Verlag, MĂĽnchen, ZĂĽrich, S. 248f.

[2] vgl. z.B. Gutmann, Wolfgang Friedrich (1995): Die Evolution hydraulischer Strukturen * Organismische Wandlung statt altdarwinistischer Anpassung, Morris, Simon Conway (2003): Life’s Solution / Inevitable Humans in a Lonely Universe, Cambridge University Press, New York und Melbourne, oder Kirschner, Marc. W.; Gerhart, John C. (2007): Die Lösung von Darwins Dilemma, Cambridge University Press, New York und Melbourne und mein Posting dazu!

[3] Gerhard Vollmer: Zufall. Essay, Online-Lexikon,  Download 28.1.2008

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Haben Tiere Bewusstsein?

23. Dezember 2007 - 10:50 Uhr

In SpektrumDirekt vom 20.12.07 berichtet Tanja Krämer über Untersuchungen der Variation des Gesangs japanischer Mövchen (Lonchura  striata var. domestica). Die Sache wäre an sich für mich nicht besonders interessant, wenn sie dazu nicht Termini wie „Absicht“ und „bewusst“ verwendet hätte. Was einem etablierten Verhaltensbiologen, der in den Kategorien des Behaviorismus denkt, vielleicht ein müdes Lächeln entlockt hätte, das provoziert einen mich,  der über die paradigmatische Situation der Biologie nachdenkt, geradezu zu der Frage, was denn im Verhalten von Vögeln „bewusst“ genannt werden könnte. Wir sind ja nicht einmal imstande, eine einigermaßen konsensfähige Definition des menschlichen Bewusstseins hinzukriegen, obwohl wir doch alle über ein solches verfügen.

Wenn wir von unserer Kenntnis über unser jeweils eigenes Bewusstsein ausgehen, dem einzigen, das uns in unserer Erfahrung gegeben ist, dann wird man wohl die Frage verneinen müssen, ob Vögel über etwas gleichartiges verfügen, ja ob überhaupt Tiere über mentale Fähigkeiten verfügen, die unserem Bewusstsein gleichartig sind.

Andererseits weisen die zitierten und andere Untersuchungsergebnisse sowie unsere alltäglichen Erfahrungen mit Tieren darauf hin, dass es im mentalen Bereich der Tiere funktionelle Komponenten geben muss, die das Tier zu Leistungen befähigen, für die wir unser Bewusstsein benutzen. Eben das bringt uns dazu, diese Leistungen mit Termini zu beschreiben, mit denen wir auch unsere mentalen Prozesse beschreiben. Nur – ist das berechtigt? Ist das überhaupt zulässig? Schreiben wir damit den Tieren nicht Eigenschaften und Fähigkeiten zu, über die sie noch nicht verfügen und noch nicht verfügen können, jedenfalls dann nicht, wenn wir die Theorie der Evolution ernst nehmen.

In jedem Fall sollten Tiere aber ĂĽber eigenständige mentale Fähigkeiten verfĂĽgen, aus denen im Verlaufe der Evolution das menschliche Bewusstsein hervor gegangen ist. Solche Vorformen des Bewussten sollte es in unterschiedlicher Ausprägung geben, ähnlich wie GliedmaĂźen oder Verdauungsorgane in unterschiedlicher Ausprägung vorkommen. FĂĽr diese haben wir auch unterschiedliche Bezeichnungen wie “Flossen”, “Hufe”, “Tatzen” oder “Honigmagen” und “Pansen”. FĂĽr die unterschiedlichen mentalen Zustände dieser Tiere haben wir keine Worte. Und deshalb können wir die Frage nach dem Bewusstsein der Tiere nicht beantworten, wir wĂĽssten gar nicht, welche Worte wir fĂĽr die anzunehmenden mentalen Prozesse beispielsweise der Fliegen mit dem eigenen Willen benutzen sollten.

Die fehlenden Worte stehen für fehlende Begriffe. Wir wissen gar nicht, wofür wir überhaupt Worte bräuchten, weil wir nicht den Schatten einer Idee haben, welche mentalen Prozesse tierischem Verhalten zugrunde liegen. Das wird auch so  bleiben, solange Verhaltensbiologie und Psychologie ihre Untersuchungen reduktionistisch anlegen und die mentalen Funktionen aus der Erforschung der Teile des Nervensystems ableiten wollen. Das diesem Vorgehen zugrunde liegende kausalistische Paradigma hat in den letzen 100 Jahren allen „Manifesten“ zum Trotz und bei allen Fortschritten des Technischen aber keinen ernsthaften Beitrag zum Verständnis mentaler Prozesse geleistet. Wir verstehen weder das menschliche Bewusstsein noch die tierische Psyche. Wir haben auf diesem Wege zwar eine Fülle von Daten produziert. Von diesen kann man aber, um eine Formulierung Laughins zu benutzen, höchstens sagen, dass sie „nicht einmal falsch sind“, denn es fehlt ein begriffliches und terminologisches System der Psyche, des Mentalen, aus dem Daten vorhersagbar sind und in dem die Daten experimenteller Untersuchungen eine Bedeutung erhalten. So können Daten mangels einer Theorie auch keine Theorie verifizieren. Wozu sind sie aber dann nütze? Ohne ein theoretisches System sind solche Daten bedeutungslos, so bunt die Bilder auch sein mögen.

Die Eignung des reduktionistischen Paradigmas zur Lösung von Fragen nach dem Mentalen im tierischen Verhalten wird heute nicht nur von Kreationisten und ID- Apologeten in Zweifel gezogen, sondern vor allem auch von ernsthaften Naturwissenschaftlern. So hat der Physiknobelpreisträger 1998 Robert Lauglin in seinem Buch „Abschied von der Weltformel“ (Piper 2007) gezeigt, dass dieses Paradigma nicht einmal mehr ausreicht, die moderne Physik hinreichend abzubilden. Der Biochemiker Stuart Kauffmann hat dies auch für die Biologie gezeigt, z.B. in „Der Öltropfen im Wasser“ (Piper 1996). Um wie viel weniger ist das Kausalitätsparadigma dann ungeeigneter, Fragen nach Psyche und Bewusstsein zu beantworten.

 

Allen meinen Lesern wĂĽnsche ich ein Frohes Weihnachtsfest und alles Gute fĂĽr 2008. Ich melde mich erst Ende Januar wieder.

 

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