Kategorie: Sprache


Linguistisches missing link gefunden?

10. April 2010 - 10:03 Uhr

Daniel Everett und die Sprache der Pirahã haben den alten Streit der Linguisten über die Frage, ob die Sprache dem Menschen angeboren ist, aufs Neue entfacht. Ausgezogen als christlicher Missionar, der brasilianischen Indianern die Bibel in deren eigene Sprache übersetzen wollte, kam er nicht nur mit neuen Erkenntnissen über die menschliche Sprache und deren Theorie zurück, sondern auch mit einem neuen Weltbild, in dem wie bei den Pirahã weder der christliche noch ein anderer Gott einen Platz gefunden hat.

Sein nun auch in deutscher Sprache vorliegendes Buch „Das glücklichste Volk“ lässt uns an drei spannenden Reisen teilhaben. Da ist zum ersten die Reise in den brasilianischen Urwald, dessen fremde Natur ihn und seine Familie in sieben Jahren  nicht wenige Abenteuer bestehen lässt. Da ist zu anderen die Reise in eine fremde Kultur und zu einer fremden Sprache, die Everett anschaulich beschreibt und die wir nur staunend bewundern können. Und da ist zum dritten die Reise eines christlichen Missionars, die ihn durch das tiefe Eindringen in die Kultur der Pirahã vom christlichen Glauben zu einer nontheistischen Weltanschauung geführt hat.

Diese Reisen führten Everett auch zu einem Wechsel seiner wissenschaftlichen Auffassungen über die Natur der menschlichen Sprache. Ausgehend von dem Auffassungen Chomskys über eine letztlich allen Menschen angeborenen Universalgrammatik entwickelte er die Auffassung, das Sprache und Grammatik vielmehr durch die Kultur der Gesellschaft bestimmt werden. In dieser Auffassung steht er zwar nicht allein, nimmt aber Auffassungen der  der „kulturhistorischen Theorie“ anscheinend ebenso wenig zur Kenntnis wie etwa die Arbeiten Merlin Donalds über die kulturelle Determination neurophysiologischer Prozesse. Allein die empirische Analyse der Sprache der Pirahã und deren Grammatik führten ihn zu diesem Standpunkt.

Die Pirahã kennen keine Wörter für Zahlen, keine Wörter für Farben und keine Wörter für gestern und heute. Die Sprache der Pirahã kennt auch keine Nebensätze und keine Einbettungen. Das Pirahä gehört unter allen Sprachen der Welt zu denen mit der geringsten Zahl an Phonemen: Es gibt für Männer nur drei Vokale (i, a, o) und acht Konsonanten (p, t, k; s, h, b, g und den Knacklaut oder Glottisverschlusslaut (x) und für Frauen drei Vokale (i, a, o) und sieben Konsonanten (p, t, k, h, b, g und x. sie benutzen h an allen Stellen, wo Männer h oder s aussprechen). Frauen haben also weniger Konsonanten als Männer. Das ist zwar nicht einzigartig, es ist aber zumindest ungewöhnlich. (Zum Vergleich: Das Deutsche hat etwa 40 Phoneme, Dialekte haben oft noch mehr.)

Es fällt auf, dass die Beschreibung des Pirahã vor allem durch die Aufzählung fehlender Merkmale erfolgt, also durch die Beschreibung desen, was diese Sprache alles nicht hat. Diese dem Pirahã fehlenden Elemente werden jedoch von der linguistischen Theorie jedoch als Merkmale einer Sprache gefordert. Ihr Fehlen führt Everett zu dem Schluss, dass diese Theorien als allgemein gültige Paradigmata ungeeignet sind und ein anderes Erklärungsprinzip erforderlich ist.

Als dieses Erklärungsprinzip schlägt Everett das „Prinzip des unmittelbaren Erlebens“ (immediacy of experience principle, IEP) vor. Dieses Prinzip besagt, dass das Pirahã nur Aussagen enthält, die unmittelbar mit dem Augenblick des Sprechens zu tun haben, weil sie entweder vom Sprecher selbst erlebt wurden oder weil jemand, der zu Lebzeiten des Sprechers gelebt hat, ihr Zeuge war.

Die Gültigkeit dieses Prinzips ist nicht auf die Sprache beschränkt, sondern hat den Rang eines allgemeinen kulturellen Prinzips, das in allen Lebensbereichen der Pirahã wirkt. Er schreibt:

„Nach und nach fielen mir immer mehr Beobachtungen ein, die für den Wert des unmittelbaren Erlebens zu sprechen schienen. So erinnerte ich mich beispielsweise daran, dass die Pirahã keine Lebensmittelvorräte anlegen, nicht für mehr als einen Tag auf einmal planen und nicht über die entfernte Vergangenheit oder Zukunft reden - sie konzentrieren sich ganz offensichtlich auf das Jetzt, auf ihr unmittelbares Erleben. Das ist es!, dachte ich eines Tages. Das verbindende Element von Sprache und Kultur der Pirahã ist die kulturelle Beschränkung, nicht über irgendetwas zu sprechen, das über das unmittelbare Erleben hinausgeht.“ (S. 199)

und

„Das Prinzip des unmittelbaren Erlebens ermöglicht überprüfbare Voraussagen, und darin zeigt sich, dass es sich nicht nur um eine negative Aussage über etwas handelt, das im Pirahã fehlt, sondern um eine positive Behauptung über das Wesen dieser Grammatik und darüber, wie sie sich von anderen, allgemein bekannten Grammatiken unterscheidet.“ (S. 349)

Dabei handelt es sich offensichtlich nicht allein um Besonderheiten der Sprache, sondern auch um Besonderheiten des Erkenntnissystems der Pirahã, das sehr eng an die unmittelbare Wahrnehmung gebunden iat. So enthält dieses Erkenntnissystem keine Schöpfungsmythen oder andere Überlieferungen. Diesem Prinzip entspricht auch ihr einfaches Verwandtschaftssystem. Infolge der geringen Lebenserwartung leben gewöhnlich nur drei Generationen gleichzeitig nebeneinander, ein Wort – und damit ein Begriff – für „Urgroßvater“ fehlt – es ist nach diesem Prinzip auch nicht erforderlich.

Die Bedeutsamkeit der Wahrnehmbarkeit spiegelt sich auch darin wieder, dass die Pirahã ein eigenes Wort benutzen, um die Wahrnehmbarkeit als kulturelles Konzept zu bezeichnen. Das herauszufinden, so berichtet Everett, hat ihn viel Mühe gekostet. Er schreibt

„Offensichtlich beschreibt das Wort Xibipíío ein kulturelles Konzept oder eine Wertvorstellung, zu der es in unserer Sprache keine eindeutige Entsprechung gibt. Natürlich kann auch bei uns jeder sagen” lohn ist verschwunden” oder »Billv ist gerade aufgetaucht”, aber das ist nicht das Gleiche. Erstens benutzen wir für Auftauchen und Verschwinden unterschiedliche Wörter, das heißt, es sind auch unterschiedliche Konzepte. Noch wichtiger ist aber, dass wir uns zweitens vor allem auf die Identität der kommenden oder gehenden Person konzentrieren und nicht auf die Tatsache, dass sie gerade unseren Wahrnehmungsbereich betreten oder verlassen hat.Schließlich wurde mir klar, dass dieser Begriff das benennt, was ich als Erfahrungsschwelle bezeichne: den Vorgang, die Wahrnehmung zu betreten oder zu verlassen und sich damit an den Grenzen des Erlebens zu befinden.“ (S.196)

                               *

Diese und andere von Everett beschriebenen Besonderheiten der Kultur der Pirahã und ihrer Sprache habe ich mit besonderem Interesse zur Kenntnis genommen, bestätigen sie doch eigene theoretische Erwägungen über die Entstehung der menschlichen Sprache.

Unter anderem geht es mir bei diesen Überlegungen um die Frage, wie die Wörter einer Sprache zu ihren gesellschaftlichen Bedeutungen kommen. Wie kommt es dazu, dass alle Mitglieder einer Gemeinschaft mit einem bestimmten Wort die gleiche Bedeutung verbinden? In einer sprechenden Gesellschaft ist das klar: durch Lernen durch Wahrnehmung. Ein Kenner des Wortes sagt es und zeigt auf den Gegenstand. Beide nehmen den gleichen Gegenstand wahr und erzeugen das psychische Abbild dazu. Wie aber, wenn es noch keine Sprache gibt, in der sich die Individuen verständigen können?

Ich habe vorgeschlagen, ein hypothetisches Stadium vorsprachlicher Zeichen anzunehmen, das aus der Verwendung von Werkzeugen in der gemeinsamen arbeitsteiligen unmittelbar hervorgehen kann (vgl. Litsche 2004, S, 455ff.). In gemeinsamer Tätigkeit benutzte Werkzeuge sollten die die ersten „Träger“ gesellschaftlicher Bedeutungen gewesen, so wie sie es auch heute noch sind. Sie können in einer sprachlosen Kommunikation der Organisation kollektiver Tätigkeiten dienen. Wenn sich eine Gruppe von Menschen zum Zweck des Schneeschippens treffen, genügt es, die vorhandenen Werkzeuge auf die Anwesenden aufzuteilen, und jeder weiß, was er zu tun hat. Was mit einem Besen oder einer Schaufel zu tun ist, weiß jeder aus eigener Wahrnehmung.

Die entscheidende Bedingung für das Entstehen gesellschaftlicher Bedeutungen ist demnach die Benutzung von Werkzeugen in gemeinsamer, arbeitsteiliger Tätigkeit.

An die Stelle der „echten“ Werkzeuge können in der Planungsphase der Tätigkeit Spielzeuge oder farbige Kugeln als Zeichen für die Werkzeuge treten, um den gleichen Effekt zu erzielen. Die Bedeutung dieser Zeichen kann auch ohne Sprache durch Wahrnehmung kommuniziert werden, indem Zeichen und Werkzeug gemeinsam gezeigt werden.

Auf diese Weise kann ein ganzes System sprachloser Zeichen und gesellschaftlicher Bedeutungen geschaffen werden. Aus der ursprünglichen Kultur kollektiver Werkzeuge entsteht eine Kultur sprachloser Zeichen, in der eine umfangreiche Kommunikation ohne Sprache möglich wird. Einige Aspekte einer solchen Kommunikation habe ich auf meiner Website dargestellt.

Zeichen und gesellschaftliche Bedeutungen können also bereits vor der Sprache entstanden sein. Sie sind die Grundlage für den nächsten Schritt der Evolution, die Umwandlung der Laute der werdenden Menschen in sprachliche Zeichen. Die Sprache kann entstehen, weil bereits ein System vorsprachlicher gesellschaftlicher Zeichen und Bedeutungen vorhanden ist. Das ist das, was den rezenten Menschenaffen zur Ausbildung einer gesellschaftlichen Sprache fehlt.

Die nichtsprachlichen Zeichen, die wir heute benutzen, bedürfen immer eines Bezugs zur Sprache. Das unterscheidet sie von den hypothetischen vorsprachlichen Zeichen.

Ein solches vorsprachliches Zeichensystem würde Merkmale aufweisen, die Everett auch in der Sprache der Pirahã gefunden hat. In einer Kultur vorsprachlicher Zeichen sind keine Zeichen möglich, die Eigenschaften getrennt von deren gegenständlichen Trägern bezeichnen. Mit den vorsprachlichen Zeichen könnten also beispielsweise keine isolierten Farben und keine Zahlen dargestellt werden. Zahlzeichen und Farbzeichen sind nicht als anschaubare gegenständliche Zeichen möglich.

                          Xibipíío

Everetts Entdeckung hat meinen Wahrnehmungsbereich ungemein bereichert. Im Pirahã finde ich viele Eigenschaften meines hypothetischen Systems vorsprachlicher Zeichen wieder. Mit der Beschreibung dieser Sprache nähert sich mein theoretisches Konstrukt nun der “Wahrnehmungsschwelle”.

Die Sprache der Pirahã erscheint mir als eine sehr ursprüngliche Sprache, die einer Kultur der vorsprachlichen Zeichen noch sehr nahe ist. Das Pirahã könnte so ein missing link im Prozess der Evolution der menschlichen Sprache sein, das die Lautsprache mit dem System der vorsprachlichen Zeichen verbindet.

 

Caroll, Lewis (1993): Alice im Wunderland, Lentz-Verlag, München, S. 52.

Donald, Merlin (2008): Triumph des Bewusstseins * Die Evolution des menschlichen Geistes, ,

Litsche, Georg A. (2004): Theoretische Anthropologie * Grundzüge einer theoretischen Rekonstruktion der menschlichen Seinsweise, Lehmanns Media-LOB, Berlin.

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Gödel und die Evolutionstheorie

23. November 2009 - 10:37 Uhr

Die Menge unseres Wissens ist keine Enzyklopädie, in der die einzelnen Erkenntnisse wie Erbsen in einem Sack herumliegen und es gleichgültig ist, was sich wo befindet. Die Gesamtheit unserer Erkenntnis bildet vielmehr eine sinnvolle Ordnung, in der die einzelnen Elemente unseres Wissens bestimmten anderen Elementen auf bestimmte Weise zugeordnet sind. Diese Ordnung setzt uns in die Lage, diese Erkenntnis als Bild einer geordneten Welt zu benutzen, das es uns ermöglicht, uns in unserer Welt zu orientieren und unsere Aktionen zielstrebig zu steuern.

Diese Ordnung der Erkenntnis weist nun größere oder kleinere „Cluster“ auf, die jeweils Bereiche der Realität abbilden, wie Lebewesen, Wetter oder menschliche Werkzeuge. Diese Cluster sind nun relativ disjunkt, d.h. die Begriffe des einen Clusters eignen sich nicht zur Abbildung von Gegenständen eines anderen Clusters. So ist „Fortpflanzung“ ungeeignet zur Abbildung der Wolkenbildung. Beim Fehlen geeigneter Termini eines Clusters wird gelegentlich ein Terminus eines anderen Clusters benutzt, um gewisse Eigenschaften des zu beschreibenden Gegenstandes darzustellen. Das Bild des einen Gegenstandes wird dann als Metapher für das Abbild eines anderen Gegenstandes benutzt, In dieser Weise benutze ich hier beispielsweise das Wort „Cluster“.

Mit der Entstehung und Entwicklung der Wissenschaften sind die Cluster der umgangssprachlichen Erkenntnis zu den Gegenständen der verschiedenen Wissenschaften wie Physik, Biologie, Psychologie oder Linguistik geworden. In den Wissenschaften wurden die ursprünglichen Termini der umgangssprachlichen Erkenntnis präzisiert, umgestaltet, durch andere ersetzt und durch neue Termini ergänzt, die ihrerseits in verschiedener Weise ihren Weg zurück in die Umgangssprache gefunden haben und finden. Auf den Punkt gebracht hat diese Disjunktheit wissenschaftlicher Theorien Kurt Gödel mit der Formulierung des Unvollständigkeitssatzes. Dieser besagt, dass es in hinreichend mächtigen Systemen Aussagen geben muss, die man formal, d.h. innerhalb dieses Systems, mit dessen Mitteln weder beweisen noch widerlegen kann. Ein solcher Beweis ist nur in einer anderen Theorie möglich.

Da die Menschen nun über mehrere solcher Erkenntnissysteme verfügen, pflegen sie bei der Beschreibung einer Erscheinung mühelos und meist unreflektiert zwischen verschiedenen Erkenntnissystemen zu wechseln.

So lässt sich zunächst problemlos die Aussage formulieren, dass es Konstellationen chemischer Entitäten geben kann, welche die Eigenschaften des Lebens wie Selbsterhaltung, Fortbewegung und die Fähigkeit zu zielstrebigen Bewegungen aufweisen. Die Termini, mit denen hier chemische Entitäten beschrieben werden, sind aber keine Termini der Chemie, sondern der Biologie und anderer Wissenschaften, die in der chemischen Theorie nicht definiert werden können und dort daher keine Bedeutung haben. Die Aussage ist von gleicher Art wie etwa die Aussage „Das Wasserstoffatom ist grün.“ Die Wörter für Farben sind keine Termini der Kernphysik.

Die Beschreibung der genannten Eigenschaften gewisser chemischer Entitäten nur mit Termini der Chemie ist jedoch nicht möglich. Dazu sind vielmehr Termini der Biologie erforderlich, die nicht aus denen der Chemie abgeleitet werden können sondern auf der Grundlege eigenständiger Wahrnehmungen neu gebildet werden müssen. Der Streit darum wird seit Jahrhunderten bis auf den heutigen Tag als Mechanismus-Vitalismus-Streit ausgefochten. Ein ähnlicher Streit tobt heute zwischen Psychologie und Neurophysiologie um die Frage, ob die psychischen Prozesse vollständig auf neurophysiologische Vorgänge zurückgeführt werden können oder nicht. Allgemein gesprochen geht es auf hier um das Problem es Reduktionismus, d.h. um die Frage, ob alle Erscheinungen der Welt in einer einzigen, einheitlichen Theorie abgebildet und erklärt werden können.

Die Anhänger des Reduktionismus begründen ihre Auffassung letztlich damit, dass ja die Welt eine einheitliche Welt sei, die auch in einer einheitlichen Theorie abgebildet werden kann. Diese Auffassung basiert letztlich und meist unreflektiert auf einem empiristischen Konzept der Erkenntnis, das Erkenntnis auf die Realität zurückführt. Betrachtet man die Erkenntnis als autonome und konstruktive Leistung eines tätigen Subjekts, wird diese Begründung gegenstandslos. Erkenntnis kann nicht durch die Eigenschaften der erkannten Realität erklärt werden, sondern nur durch die Bedürfnisse des tätigen Subjekts.

Da (menschliche) Erkenntnis nur durch Sprache (und andere Gegenstände der Kultur) ausgedrückt werden kann, kann die Frage nach der Möglichkeit einer einheitlichen Theorie nur durch die Untersuchung der Eigenschaften dieser Erkenntnismittel beantwortet werden. Etwas vereinfacht lautet diese Frage dann: “Können alle möglichen Sätze in einer einheitlichen Sprache abgeleitet und bewiesen werden?“

Versteht man den Gödelschen Unvollständigkeitssatz in einem solchen allgemeinen Sinn, dann heißt die Antwort „Nein“. Menschliche Sprache muss notwendig in Clustern organisiert sein, die nicht vollständig auseinander abgeleitet und bewiesen werden können.

Chemie, Biologie, Neurophysiologie, Psychologie usw. werden spezielle Fachsprachen verwenden, die nicht aufeinander zurückgeführt werden können. Damit aber ist ein neues Dilemma eröffnet: Wie kann dann eine Evolutionstheorie konstruiert und bewiesen werden, die ja den Übergang zwischen den in unterschiedlichen Erkenntnisclustern abgebildeten Realitätsbereichen behauptet? Leben entsteht danach aus chemischen Prozessen, Psyche aus neurophysiologischen Prozessen usw.

Bei der Erklärung solcher Prozesse muss immer der Übergang zwischen Theorien bewältigt werden, die in disjunkten Erkenntnisräumen abgebildet werden. Es geht also nicht darum, den Übergang zwischen unterschiedlichen Realitätsbereichen zu verstehen, sondern um den Übergang zwischen unterschiedlichen Erkenntnisbereichen mit unterschiedlichen Terminologien.

In den Naturwissenschaften führt dieser Umstand zu Problemen, die sich aus der Theorie der Evolution ergeben. Die Evolutionstheorie behauptet, dass sich Entitäten eine Realitätsbereichs aus Entitäten anderer Realitätsbereiche entwickelt haben. So soll Leben aus chemischen Prozessen, Psyche und Geist aus neurophysiologischen Prozessen hervorgegangen sein. Nicht einmal diese Fragen lassen sich hinreichend exakt formulieren, denn sie erfordern die gleichzeitige Anwendung von Termini unterschiedlicher Erkenntnisbereiche, die in dem jeweils anderen Erkenntnisbereich nicht definierbar sind wie etwa die Frage „Welche Farbe haben Atome?“.

Der Versuch, den Übergang von einem Realitätsbereich zu einem anderen innerhalb einer einheitlichen Theorie abzubilden, endet gewöhnlich in Konstrukten wie „Fulguration“, „Emergenz“ oder in irgendeiner Schöpfungstheorie.

Akzeptiert man jedoch den Gödelschen Unvollständigkeitssatz, dann kann man akzeptieren, dass Übergänge zwischen Realitätsbereichen mit in einer, sondern mindesten mit zwei Theorien abgebildet werden müssen. Es muss also die Frage beantwortet werden, wie der Übergang von einem Realitätsbereich zum anderen durch den Übergang von einer Theorie zur anderen abgebildet werden kann.

Dieser Übergang wird bewältigt durch eben die Aussagen, die in einer Theorie zwar gebildet, aber nicht bewiesen werden können. Nehmen wir als Beispiel die Entstehung des Lebens. In der Theorie der Chemie lässt sich die Aussage formulieren: „Leben ist ein chemischer Prozess, durch den sich mindestens ein Reaktionspartner unverändert erhält.“ Diese Aussage enthält kein Wort, das in der Fachsprache der Chemie nicht definierbar wäre. Der Beweis dieses Satzes jedoch erfordert Termini, die nicht Bestandteil der Fachsprache der Chemie sind, sondern der Fachsprache der Biologie entnommen sind und dort beispielsweise der Beschreibung der Orte dienen, an denen diese Prozesse stattfinden, z.B. „Ribosom“. Im Reagenzglas der Chemiker finden solche Prozesse nicht statt. Beim Übergang zwischen Begriffssystemen spielen →bivalente Begriffe eine besondere Rolle.

Wenn wir den Ãœbergang zwischen Theorien logisch und erkenntnistheoretisch beherrschten, bräuchten wir weder eine Weltformel noch Begriffe wie „Emergenz“, die unser Unwissen nur verbergen. Wir brauchen also nicht „eine „Theorie für alles“, sondern für jedes seine Theorie, die wir mit allen anderen logisch und semantisch widerspruchsfrei gestalten können ohne unsere Unkenntnis hinter Worten wie “Emergenz” usw, zu verbergen.

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Die Schrift und die Religion

7. Januar 2009 - 09:57 Uhr

Nachdem nun meine Überlegungen zur Entstehung der Sprache soweit gediehen sind, dass ich sie veröffentlichen konnte, kann ich mich auch wieder ein wenig dem Bloggen widmen. Gerade das Weihnachtsfest war ja für manchen willkommener Anlass, sich wieder einmal Fragen der Religion und des Glaubens zuzuwenden.Das ist ja auch schon ein Problem: Wie begeht man als Atheist oder als Andersgläubiger das Weihnachtsfest? Und was sag ich meinen Enkeln? Wann verstehen sie die Gedanken, die mich heute, da mein Leben sich seiner letzten Etappe nähert, im Zusammenhang mit diesem Fest bewegen?

Für mich ist die christliche Religion /1/ eine der größten intellektuellen Leistungen, welche die Menschheit vollbracht hat. Zum ersten Mal stellte sie die Frage nach der Gleichheit der Menschen. Im Postulat der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen lag und liegt ihre intellektuelle Anziehungskraft, befriedigt doch dieses Postulat ein grundlegendes Erkenntnisbedürfnis aller Menschen.Die Größe des intellektuellen Anspruchs dieses Postulats wird allein schon dadurch deutlich, dass es bis heute nicht gelingt, dieses Postulat in unserem Handeln zu realisieren. Wie sonst wäre es möglich, dass nicht nur Atheisten Kriege führen, sondern dass Muslime auf Juden, Katholiken auf Protestanten schießen und das mit Waffen, die ihre Priester gesegnet haben? Aber auch die Hoffnung auf Aussöhnung und Frieden resultiert aus dem Gleichheitspostulat.Dazu passt, dass im Weltbild vieler religiöser Menschen nur Angehörige der eigenen Religion des Paradieses teilhaftig werden können und dass sogar beim Zählen der des Paradieses Würdigen nicht alle gleich behandelt werden. - So versuche ich zu Weihnachten, wenigstes meine Lieben in meinen Geschenken gleich zu behandeln.

Eine andere wenigstens ebenso große intellektuelle Leistung vollbrachten die Schöpfer der christlichen Religionen mit dem
monotheistischen Konstrukt eines nicht anschaubaren Gottes, von dem man sich kein Bild machen soll.Soweit mir bekannt, werden bis heute die Götter polytheistischer Religionen durch gestaltbare und dadurch anschaubare Bilder oder Skulpturen (Götzen) oder auch durch Naturerscheinungen dargestellt. Der Gott der christlichen Religionen ist dagegen abstrakt, er kann nicht angeschaut werden sondern kann nur gedacht, d.h. geglaubt werden.Mit diesem Konstrukt erreichte das menschliche Denken wohl erstmals theoretisches Niveau, d.h. das Niveau eines Denkens, dass sich vollständig von der Anschauung gelöst hat. Wie schwer diese Anforderung zu erfüllen war, geht für mich auch aus dem Umstand hervor, dass ein anschaubares Verbindungsglied zu diesem abstrakten Gott erforderlich wurde, das in dem Konstrukt des menschgewordenen Gottessohns realisiert wurde.Das Konstrukt eines nicht anschaubaren Gottes erforderte aber weiter die Erfindung einer dazu geeigneten Schrift.
Solange die Schrift Bilderschrift ist, kann die Idee eines nicht anschaubaren Gottes überhaupt nicht ausgedrückt werden, weil das Schriftzeichen für Gott nur ein Bild Gottes sein kann. Erst wenn Worte unmittelbar in
Buchstaben geschrieben werden können, sind auch Schriftzeichen für abstrakte Gedanken konstruierbar.Damit bin ich wieder beim Ausgangspunkt angelangt, der Entstehung von Sprache und Schrift. Das sind unzweifelhaft kulturelle Leistungen der Menschheit und nicht das Resultat biotischer Evolution. Nicht genetische Veränderungen des Gehirns bringen Sprache und Schrift hervor, sondern die Entwicklung der menschlichen Kultur durch die menschliche Tätigkeit.Merlin Donald, selbst Kognitionspsychologe, zeigt in seinem Buch „Triumph des Bewusstseins“, /2/ dass und warum die Entstehung und Entwicklung der Sprache nicht aus dem „solipsistischen Paradigma“ der Neurophysiologie verstanden werden kann, sondern dass die Herausbildung der Sprache nur aus der kollektiven Kultur der Menschen erklärbar ist.

Und wenn die Sprache nicht aus dem Gehirn erklärbar ist, dann ist sie auch nicht genetisch bestimmt, wie beispielsweise
Noam Chomsky oder Steven Pinker meinen. Und dann ist auch die Religion kein Resultat biotischer Evolution, wie Michael Blume in seinem Buch „Gott, Gene und Gehirn“ meint. Die christliche Religion ist intellektuelles Resultat der Entwicklung der menschlichen Kultur, in der ich lebe und die ich respektiere – auch durch die Art, in der ich als Atheist Weihnachten feiere.  

 /1/ Ich meine Religion, nicht aber das, was Kirchen daraus machen.
/2/ Donald, Merlin (2008): Triumph des Bewusstseins. Die Evolution des menschlichen Geistes, Klett - Cotta Verlagsgemeinschaft, Stuttgart
/3/Rüdiger Vaas, Michael Blume (2008) :Gott, Gene und Gehirn. Warum Glaube nützt. Die Evolution der Religiosität, Hirzel Verlag Stuttgart. 

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