Die Wahrnehmung der 5. Dimension

Seit einigen Wochen plage ich mich mit der Frage, wie ein Konzept für Wahrnehmung beschaffen sein müsste. Dieses Konzept muss es ermöglichen abzubilden, wie Subjekte mittels ihrer Sinnesorgane psychische Bilder der Realität zustande bringen. Alle mir bekannten Wahrnehmungskonzepte sind entweder empiristisch oder konstruktivistisch. Keines leistet das was es soll.

Der Empirismus kommt nicht mit der Autonomie der Sinnesorgane zurecht, die von der modernen Neurophysiologie beschrieben wird, der Konstruktivismus kann nicht darstellen, dass die psychischen Bilder Abbilder der Realität sind. Keines dieser Konzepte kann alle drei Variablen – Realität, Sinne und Abbilder – in eine logisch widerspruchsfreie Beziehung bringen. Dem Konstruktivismus fehlt die Realität, es gibt nur die konstruierte Wirklichkeit, die nicht wahrgenommen sondern konstruiert wird. Der Konstruktivismus braucht also kein Konzept für Wahrnehmung.

Dem Empirismus fehlt das moderne Verständnis der Funktionsweise der Sinnesorgane. Er geht davon aus, dass die Realität auf die Sinnesorgane einwirkt und aus diesen Eiwirkungen dann die psychischen Abbilder entstehen wie die Bilder in einem Spiegel. Das Subjekt erhält so eine passive Rolle. Es ist der Ort, in dem etwas geschieht. /1/

Diese Auffassung des Subjekts war nun für viele Autoren unbefriedigend. Sie versuchten, die passive Rolle des Subjekts durch allerlei Hilfskonstruktionen aufzubessern. Das ist vor allem in der Tätigkeitstheorie der Fall. Sie erklärt die psychische Widerspiegelung zu einem aktiven, schöpferischen Prozess. Das Subjekt soll die Widerspiegelung nicht passiv mit sich geschehen lassen, sondern sie aktiv gestalten. Der logische Widerspruch zwischen den Konzepten der „Widerspiegelung“ und „Aktivität“ wird nicht reflektiert.

Seinen besonderen Mangel zeigt das empiristische Wahrnehmungskonzept, wenn es um die Beschreibung der Wahrnehmung von Werkzeugen und Kulturgegenständen geht, d.h. von Gegenständen, die eine Funktion oder eine Bedeutung haben.

Aussagen wie „er sieht eine Angel“ oder „er hört ein Wort“ haben in keiner Variante eines empiristischen Wahrnehmungskonzepts einen Sinn. Im Konstruktivismus werden beide nicht wahrgenommen, sondern konstruiert.

Tomasello hat diesen Aspekt der Wahrnehmung experimentell untersucht. Er untersuchte die Fähigkeit von Schimpansen und Menschenkindern, wahrnehmbare Aktionen Anderer zu imitieren. Dabei stellte er fest, dass Schimpansen Werkzeuggebrauch nicht adäquat imitieren können. Nur „FĂĽr Menschen ist das Ziel oder die Intention des VorfĂĽhrenden ein zentraler Teil dessen, was sie wahrnehmen“ S.(42) Schimpansen dagegen „konzentrieren … sich bei ihren Beobachtungen auf Zustandsänderungen (darunter Ă„nderungen der räumlichen Position) der an der VorfĂĽhrung beteiligten Gegenstände, wobei die Handlungen des VorfĂĽhrenden wirklich nur als Körperbewegungen erscheinen. Die intentionalen Zustände des VorfĂĽhrenden und damit seine Verhaltensmethoden kommen in ihrer Erfahrung einfach nicht vor.“ (S. 42)

„Ein Ziel wahrnehmen“ wie soll das gehen? Diese Formulierung ergibt keinen Sinn, in welches der beiden Wahrnehmungskonzepte man sie auch stellt.

Leont´ev hat zur Beschreibung von Wahrnehmungen dieser Art eine weitere Hilfskonstruktion eingeführt: die „fünfte Quasidimension“. Diese Dimension ist die Bedeutung der Gegenstände, die diese in der menschlichen Gesellschaft erhalten. /2/ Er schreibt: „Auf den Menschen, das Bewußtsein des Menschen zurückkommend, muß ich noch einen Begriff einführen - den Begriff von der fünften Quasidimension, in der sich dem Menschen die objektive Welt enthüllt. Das ist das „semantische Feld“, das System der Bedeutungen. Die Einführung dieses Begriffs verlangt eine nähere Erläuterung. Tatsache ist, daß ich, wenn ich einen Gegenstand wahrnehme, diesen nicht nur in seinen räumlichen Dimensionen und in der Zeit, sondern auch in seiner Bedeutung wahrnehme.“ (S.8)

In dieser Hilfskonstruktion verbirgt sich ein verbreiteter Kategorienfehler: Eine zweistellige, relative Eigenschaft wird als einstellig, absolut abgesehen. Eine Bedeutung kommt einem Gegenstand aber nur in Bezug auf bestimmte Menschen zu. So hat beispielsweise ein stabförmiger Gegenstand für einen Menschen, der angeln will eine andere Bedeutung als für einen, der einen Pfeil für seinen Bogen sucht.

Dass die Tätigkeit treibende Bedürfnis beeinflusst natürlich die Wahrnehmung, der eine „sieht“ schon die Angel, die er herstellen will, der andere den zukünftigen Pfeil. In einer Tonfolge „hören“ nicht alle Menschen eine oder die gleiche „Melodie“.

Mit dem Konstrukt der 5. Dimension kann zwar das Widerspiegelungskonzept der Wahrnehmung aufrecht erhalten werden, dafür muss aber das Konstrukt der Realität als unabhängig vom Menschen existierend aufgegeben werden. Wenn der wahrnehmbaren Realität eine Bedeutung zugeschrieben wird, wird sie zu einer relativen Entität, zu einer Entität, die nur in Bezug zur menschlichen Wahrnehmung existiert und nicht unabhängig von dieser. Damit wären wir wieder beim Konstruktivismus und das Problem bleibt ungelöst.

Aber es scheint Licht am Horizont: Offensichtlich, kann ein tragfähiges Konzept für Wahrnehmung und Erkenntnis nicht im Rahmen der drei Variablen Realität – Sinne – psychische Bilder entwickelt werden. Dieser Rahmen wirkt wie ein „Spanischer Stiefel“, der bestimmte Antworten erzwingt.

Es muss wohl ein anderer Rahmen her, ein Rahmen, in dem die Erkenntnis-Variablen mehr Raum finden, Raum, in dem die Möglichkeiten ausgeschöpft werden können, die ihnen bei der Beschreibung von Wahrnehmung von Gegenständen der Kultur und deren Erkenntnis zukommen. Mit der Konstruktion eines solchen Rahmens plage ich mich nun rum.

 /1/ Zu diesem Problem habe schon mehrfach geschrieben: Erkenntnis ohne Wahrnehmung, Reflexionen über Konstruktivismus und Die Gegenständlichkeit psychischer Bilder

/2/ Auch Tomasello bedient sich dieses Konstrukts. Er schreibt: „Aber die Werkzeuge und Artefakte einer Kultur haben noch eine andere Dimension, die Cole die „ideale“ Dimension nennt.“ (S.194). Auch M. Cole, ein ausgewiesener Anhänger der Kulturhistorischen Schule, nennt diese Dimension die „Fünfte“.

Literatur:

Leontjew, Alexej (1981): Psychologie des Abbilds. In Forum Kritische Psychologie 9, Argument, Berlin, Seiten 5 bis 19,
Tomasello, Michael (2002): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main S. 104,
Michael Cole (1998):Cultural psychology: a once and future discipline Harvard University Press,

 

Kategorie: Allgemein, Erkenntnis, Geist, Wahrnehmung

4 Reaktionen zu “Die Wahrnehmung der 5. Dimension”

  1. Bertram Köhler

    Empirismus und Konstruktivismus haben beide einen wahren Kern, aber sie sind einseitig und unvollständig.
    Das empiristische Wahrnehmungskonzept ist in sofern mangelhaft, als es den Evolutionsprozess ausklammert. Der Widerspruch zum konstruktivistischen Konzept entsteht erst durch die (angenommene) Autonomie der Sinnesorgane. Diese sind aber nicht autonom, denn sie sind ein Ergebnis des Evolutionsprozesses. Wir sehen doch genau das, was wir zum Leben und zur Evolution sehen müssen. Die evolutionäre Erkenntnistheorie löst den unterstellten Widerspruch auf.
    Die realen Objekte wirken auf die Sinnesorgane und das Subjekt konstruiert die Bedeutung des Objektes, die es real fĂĽr seine Existenz und fĂĽr sein Ăśberleben hatte und hat. Ich sehe da keinen Widerspruch.
    Realität, Sinne und psychische Bilder werden durch die evolutionäre Erkenntnistheorie verknüpft, Realität und Bild müssen sich aber nicht 1:1 entsprechen.

  2. Georg

    Die Autonomie ist die Crux. Ohne das Postulat der Autonomie kann man den Begriff des Subjekts nicht bilden, so wie das im kausalistischen Paradigma der Physik der Fall ist. Dann kann auch der Begriff des freien Willens nicht gebildet werden, Kausalität schlägt Willen.
    Die evolutionäre Erkenntnistheorie entspringt dem kausalistischen Paradigma der Physik und kann ihm nicht entkommen.
    Das ist auch die Crux der klassischen Evolutionstheorie und ihrer Erweiterung auf Psychologie und Erkenntnistheorie: Sie ist diesem Paradigma verhaftet und kennt daher keine Subjekte.
    Wenn aber die Lebewesen als Subjekte verstanden werden, ist Evolution die Evolution autonomer Subjekte und deren Sinnesorgane und schon haben wir wieder den Widerspruch.
    Zum anderen gibt es im physikalischen Paradigma keine Bedeutungen, so dass sich in der evolutionären Psychologie und Erkenntnistheorie auch die Frage nach der Wahrnehmung von Bedeutungen garnicht formulieren geschweige denn beantworten lässt.
    Das war die logische BegrĂĽndung. Die empirischen Daten der modernen Neurophysiologie und Psychologie ĂĽber die Funktionsweise der Sinnesorgane und die Leistungen der Psyche belegen ebenfalls die Autonomie der Leistungen der Sinnesorgane, das hat der Konstruktivismus m.E. bisher unwiderlegt herausgearbeitet.

  3. Bertram Köhler

    Kausalität schlägt Willen: Bis dahin kann ich das noch voll unterstreichen.
    Aber ist denn das kausalistische Paradigma ein Naturgesetz?
    Falls Wille durch Evolution in die Welt kommen konnte, dann nur wenn es vorher schon den Zufall gab und die Welt auch vorher nicht streng kausal war. Wenn das kausalistische Prinzip streng gelten würde, dann wäre die Evolution „intelligent design“ und es hätten keine autonomen Subjekte entstehen können.
    „Die evolutionäre Erkenntnistheorie entspringt dem kausalistischen Paradigma der Physik und kann ihm nicht entkommen.“
    Wieso kann sie ihm nicht entkommen? Die Evolutionstheorie ist ihm doch auch entkommen! Ja mehr noch: die moderne Physik hat sogar das kausalistische Paradigma in Frage gestellt. Die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie interpretiert Materiewellen als Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten von Teilchen. Das ist derzeitiger Stand meiner Erkenntnis. Ist das letzte und wahre Erkenntnis? Es gibt natürlich auch andere Interpretationen. Damit sind wir wieder bei der Erkenntnistheorie. Und bei der Rolle des Zufalls. Der Zufall ist akausal, weil wir die Quantentheorie so konstruiert haben oder weil wir die Realität nicht richtig erkannt haben oder nicht richtig erkennen können? Erkenntnis ist nicht objektive Realität, sondern eingeschränktes Wissen über Realität.
    Ich denke, man darf die Autonomie der Subjekte nicht mit der Autonomie der Sinnesorgane verwechseln. Ein Sinnesorgan könnte nur autonom sein, wenn das betreffende Organ selbständig reproduktionsfähig wäre und einer autonomen Selektion unterläge. Das ist bei Zellen möglich, aber nicht bei Organen. Organe können zwar selbständig Leistungen erbringen, sich aber nicht selbständig weiterentwickeln, weil nicht sie der Selektion unterliegen. Der Selektionsmechanismus greift am ganzen Organismus, d.h. am Subjekt an, Organe sind keine Subjekte und sind nicht autonom.
    Die experimentellen Befunde der Neurophysiologen beweisen ja nicht die Autonomie der Sinnesorgane, sondern m.E. nur die aktuelle Unabhängigkeit ihrer Leistungen vom Bewusstsein und das Nachhängen des Bewusstwerdens gegenüber willkürlich ausgelösten Aktivitäten. Das bedeutet lediglich, das willentliche Aktivitäten nicht vom Bewusstsein ausgelöst werden, Bewusstsein also nicht der Befehlsgeber, sondern nur Berater des Subjektes ist.
    Wenn wir davon ausgehen, dass die Realität ein denknotwendiges Konstrukt ist, dann erkennen wir nur den Teil, der unsere Tätigkeit beeinflusst. Das bestimmt auch die Funktionalität der Sinnesorgane und des Hirns. Diese Abhängigkeit ist Ergebnis der Selektion in der Evolution und der Kern der evolutionären Erkenntnistheorie. Eine davon autonome Wahrnehmung und Erkenntnis gibt es nicht. Richtig ist, das Bedeutungen nicht wahrgenommen werden können. Es gibt also keine 5. Dimension der Wahrnehmung. Aber diese 5. Dimension steht in Beziehung zum Konzept der kollektiven Erkenntnis und die Bedeutung eines Objektes kann auf dem Umweg über die kollektive Erkenntnis wahrgenommen werden. Ist das dann noch „Wahrnehmung“?

    Wenn der Begriff Zufall ein Konstrukt des Menschen ist und die Tatsache bezeichnet, dass wir (noch) keinen kausalen Zusammenhang erkennen konnten, dann hat der Begriff (freier) Wille im Prinzip die gleiche Wertigkeit.

  4. Georg

    Bo Eh!
    FĂĽr Antworten auf diese Fragen brauche ich das Buch, das ich gerade zu schreiben versuche. Musst Dich also noch gedulden.
    Vorab nur Folgendes – zum Weiterdenken:
    Die Evolutionstheorie ist zutiefst kausalistisch. Sie denkt in den Kategorien Ursache – Wirkung und unterstellt Lebewesen, die wie mechanische (kausalistische) Gebilde funktionieren und der Umwelt – z.B. der Auslese - passiv ausgesetzt sind. Lebende Subjekte mit eigenem Willen kommen in ihr nicht vor. Diese Kritik steht seit Uexküll im Raum und ist bisher nicht widerlegt worden.
    Deshalb kann sie auch nicht erklären, wie Psyche und Geist entstehen, die physikalisch nicht beschrieben werden können. Und deshalb kann auch die evolutionäre Erkenntnistheorie die Entstehung Vernunft Erkenntnis nicht erklären.
    Hinzu kommt, dass sie getreu ihrem biologistischen Ansatz Gehirn und Sinnesorgane als „Werkzeuge“ der Erkenntnis ansieht. Werkzeuge der Erkenntnis – nicht allein der Wahrnehmung – aber sind (auch) Sprache und Kultur. Deren Entstehung und Entwicklung kann nicht durch die traditionelle (synthetische) Evolutionstheorie (Evodevo eingeschlossen) nicht erklärt werden. Evolution ist mehr als Mutation, Auslese usw.
    Zum anderen ist deine Sprechweise nicht konsistent, manche Termini – so scheint mir – werden manchmal objektsprachlich, manchmal theoriesprachlich verwendet (z.B. „Subjekt“), wodurch Widersprüche entstehen müssen. Die Fortpflanzung ist kein Merkmal des (theoretischen) Subjektbegriffs, sondern des empirischen Begriffs der Lebewesen.
    Ebenso ist Bewusstsein nicht Merkmal des Subjektbegriffs, auch wenn manche Subjekte Bewusstsein haben.
    Und zuletzt, Tomasello u.a. haben experimentell gezeigt, dass schon Kinder in relativ frĂĽhem Alter auch die Bedeutungen von Werkzeugen wahrnehmen, Schimpansen das aber nie lernen.
    Das muss vorerst genügen, der Rest kommt – vielleicht im Buch.


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