Erkenntnis ohne Wahrnehmung
Die bislang radikalste Form, die RealitĂ€t aus der Erkenntnis zu entfernen, sind die Erkenntnistheorien des der Konstruktivismus. Der Konstruktivismus bestreitet zwar nicht die Existenz einer objektiven, d.h. vom Menschen unabhĂ€ngigen RealitĂ€t, er bestreitet aber, dass unsere Wahrnehmung uns ein Bild dieser RealitĂ€t liefern kann. Mit dieser These wirft der Konstruktivismus nicht nur die Wahrnehmung als Prozess der Erkenntnisgewinnung ĂŒber Bord, sondern auch den Abbildcharakter der Erkenntnis schlechthin. Erkenntnisse sind im konstruktivistischen keine Abbilder einer von diesen Abbildern unabhĂ€ngigen RealitĂ€t, sondern freie Konstrukte des denkenden Subjekts.
Diese Argumentation zeigt, wie verhaftet der Konstruktivismus noch mit der empiristischen Erkenntnistheorie ist. Das Abbild kann nur als auf Wahrnehmung beruhendes Abbild verstanden werden. Die unreflektierte Annahme, Erkenntnis beruht letztlich auf Wahrnehmung, kennzeichnet auch die Diskussion im Blog Arte-Fakten. Es ist das Verdienst des Konstruktivismus nachgewiesen zu haben, dass eine solche Abbildtheorie mit den Ergebnissen der modernen Neurophysiologie unvereinbar ist. Das impliziert aber nicht die Annahme, dass die Erkenntnistheorie grundsĂ€tzlich keine Abbildtheorie sein kann. Erkenntnisse mĂŒssen nur als Abbilder der RealitĂ€t aufgefasst werden, die auf andere Weise als durch Wahrnehmung zustande kommen. Mit dieser Annahme entfĂ€llt die logische Notwendigkeit, auch die Kategorie der RealitĂ€t aus der Erkenntnistheorie zu entfernen. Sie erweist sich vielmehr als Denknotwendigkeit, denn ohne die Kategorie der RealitĂ€t bliebe auch die Kategorie des Abbildes inhaltsleer.
Eine Lösung dieses Problems besteht darin, die Kategorie der Erkenntnis zwar nicht ohne RealitĂ€t, aber ohne Wahrnehmung zu konstruieren. Erkenntnisse bleiben dann wie im Konstruktivismus freie Konstrukte des Subjekts. Da der Konstruktivismus mit der Wahrnehmung auch die RealitĂ€t aus der Erkenntnis entfernt hat, fehlt ihm auch das zweite Glied, um die Erkenntnis als Abbildrelation zu konstruieren. Mit der Einbeziehung der RealitĂ€t als Denknotwendigkeit in den Erkenntnisbegriff ist diese logische HĂŒrde ĂŒberwunden. Erkenntnis kann nun verstanden werden als freie subjektive Konstruktion von Abbildern der RealitĂ€t. Abbilder der RealitĂ€t mĂŒssen nicht durch Wahrnehmung entstehen, sie können auch konstruiert werden.
Damit stellt sich die Frage nach der âZuordnungsvorschriftâ, nach der die freien Konstrukte der RealitĂ€t als deren Abbild zugeordnet werden sollen. Diese Zuordnungsvorschrift kann nicht mehr durch den Wahrnehmungsprozess begrĂŒndet werden. Der Konstruktivismus bietet zwei Kriterien an, nach denen Konstrukte zu bewerten sind: den Konsens und die Eignung als Orientierungsgrundlege.
Die letztgenannte Bestimmung ist eine der Hilfskonstruktionen, durch die der RealitĂ€t quasi durch die HintertĂŒr wieder Einlass in die konstruktivistische Erkenntnistheorie verschafft wurde, denn die Notwendigkeit der Orientierung ist nur durch die Annahme einer RealitĂ€t begrĂŒndbar, in der sich das Subjekt orientieren muss. In dieser Konstruktion wird auch die Wahrnehmung wieder in die konstruktivistische Theorie eingefĂŒhrt, denn die Orientierung erfolgt in dieser Sicht weiter ĂŒber die Sinnesorgane. Auch in diesen Versionen des Konstruktivismus bleibt weiterhin bestritten, dass durch die Orientierung ĂŒber die Sinnesorgane ein Abbild der RealitĂ€t entsteht.
In dieser Argumentation macht sich eine weitere Enge der Sichtweise der konstruktivistischen Erkenntnistheorie bemerkbar. Sie kennt keine andere Verbindung zwischen Subjekt und RealitÀt als die Wahrnehmung. Betrachtet man das Subjekt aber als tÀtiges Subjekt, das sich durch seine TÀtigkeit selbst erhÀlt, dann erweist sich die TÀtigkeit eine eigenstÀndige und unmittelbare Verbindung zwischen Subjekt und RealitÀt, die keiner Vermittlung durch Sinnesorgane bedarf (wenn sie diese auch zulÀsst).
Eine erfolgreiche TĂ€tigkeit, durch die sich das Subjekt tatsĂ€chlich erhĂ€lt, begrĂŒndet eine eindeutige Zuordnungsvorschrift, die das Konstrukt der RealitĂ€t als deren Abbild (im Sinne eines mathematischen Abbildungsbegriffs) zuordnet. In dieser Sicht ist die Erkenntnis ein konstruiertes Bild fĂŒr die RealitĂ€t und nicht mehr wie im Empirismus ein Bild von der RealitĂ€t, sie ist nicht mehr deren Widerspiegelung.
Bleibt die Frage, wie nun die Wahrnehmung mit der Erkenntnis zusammenhĂ€ngt. Offensichtlich ist, dass Erkenntnis nie ohne Beteiligung der Wahrnehmung erfolgt, sie erklĂ€rt sie nur nicht. Wahrnehmung ist kein ErklĂ€rungsprinzip fĂŒr Erkenntnis, es ist eher umgekehrt. â Aber das ist schon Stoff fĂŒr einen neuen Beitrag.
Kategorie: Allgemein, Erkenntnis, Psyche, TĂ€tigkeitstheorie, Wahrnehmung
am 27. August 2009 um 17:04 Uhr | #
Erkenntnis ohne Wahrnehmung wird es wohl nicht geben, was Sie darĂŒber geschrieben haben, sehe ich im Wesentlichen auch so. Aber ist die “Zuordnungsvorschrift, die das Konstrukt der RealitĂ€t als deren Abbild zuordnet” wirklich “eindeutig”? Ich denke eher, dass wir mehrere verschiedene Modelle bezw. Abbilder fĂŒr die RealitĂ€t haben, die uns erfolgreiche TĂ€tigkeit ermöglichen, und die sind dazu noch untereinander widersprĂŒchlich, zumindest schafft es unser Geist (noch?) nicht, sie in Ăbereinstimmung zu bringen.
Eine eindeutige Zuordnungsvorschrift fordert allerdings auch Anton Zeilinger in seinem Buch “Einsteins Schleier”, seine Formulierung “Wirklichkeit und Information sind dasselbe” grenzt aber bereits an Leugnung der RealitĂ€t. In meinem Kommentar dazu (siehe auch www.bertramkoehler.de/Quantenphysik.htm )schreibe ich:
“Bis zu seiner Forderung: “Naturgesetze dĂŒrfen keinen Unterschied machen zwischen Wirklichkeit und Information” kann ich Zeilingers Ăberlegungen folgen, denn die Naturgesetze sind menschliche Konstruktionen, die aus der gewonnenen Information abgeleitet werden und die Wirklichkeit beschreiben sollen. Sein radikaler Vorschlag: “Wirklichkeit und Information sind dasselbe” geht mir aber zu weit. Meine Begriffe von Wirklichkeit und Information lassen es zu, dass es unterschiedliche Informationen ĂŒber ein und dieselbe Wirklichkeit gibt. Diese unterschiedlichen Informationen können gegensĂ€tzlich und widersprĂŒchlich sein und beschreiben dann eine ebenso widersprĂŒchliche Wirklichkeit, identisch mit der Wirklichkeit ist diese Information aber erst, wenn sie auch vollstĂ€ndig ist, wenn es also keine weiteren nichtredundanten Informationen zu dem betrachteten Sachverhalt gibt”. Und auch dann wĂ€re das Konstrukt nur eine identische Abbildung der RealitĂ€t.
am 28. August 2009 um 09:50 Uhr | #
Ich meine, dass die TĂ€tigkeit eine eindeutige Zuordnung der Elemente des Konstrukts zu Elementen der RealitĂ€t âbegrĂŒndetâ, d.h. ermöglicht. Nur unter dieser Annahme ist âWahrheitâ (was immer man darunter noch verstehen mag) denkbar. Wichtig ist, dass die endliche Menge der Elemente des Konstrukts eindeutig Elementen der RealitĂ€t zugeordnet werden kann. Das Subjekt kann seine TĂ€tigkeit nur in dem MaĂ erfolgreich steuern, in dem ihm das gelingt.
Die Elemente des Konstrukts werden durch die BedĂŒrfnisse des Subjekts bestimmt, wie UexkĂŒll am Beispiel der Zecke zeigt. Ist das Konstrukt unvollstĂ€ndig hinsichtlich der BedĂŒrfnisse, kann die TĂ€tigkeit nicht erfolgreich sein. Erfordert es eine RealitĂ€t, die nicht vorhanden ist, eben so wenig.
Sicher gibt es keine Erkenntnis ohne Wahrnehmung. Der âDenkversuchâ, Erkenntnis ohne Wahrnehmung zu konstruieren, soll ihre Stellung in einer Theorie des Erkennens erhellen. Wahrnehmung erklĂ€rt Erkenntnis nicht, sondern wird durch sie erklĂ€rt.
Zu Zeilinger: Das hĂ€ngt davon ab, was unter âInformationâ verstanden wird. Wenn âInformationâ eine objektive Eigenschaft der RealitĂ€t ist, hat er wohl recht. Bisher ist es m.W. aber noch nicht gelungen, auf dieser Annahme eine einigermaĂen akzeptable Definition von Information zustande zu bringen.
Ich denke, dass âInformationâ den Elementen der RealitĂ€t als autonome Leistung von Subjekten âaufmoduliertâ wird. Nur so kann die Konstruktion mehrerer Bilder eines Objekts erklĂ€rt werden.
Aber dazu ist Wahrnehmung erforderlich, die erst diese Information erzeugt.
Das erfordert aber einen eigenen Beitrag.
am 4. September 2009 um 16:48 Uhr | #
Das oben angefĂŒhrte ist richtig, wenn “eindeutig” als EinbahnstraĂe zu verstehen ist und man zugesteht, dass das Konstrukt die objektive RealitĂ€t nicht vollstĂ€ndig beschreiben muss, sondern lediglich in Bezug auf das fĂŒr die BedĂŒrfnisse des Subjektes Relevante. Diese Auffassung steht dann aber in deutlichen Widerspruch zu Zeilingers “Wirklichkeit und Information sind dasselbe”, denn hier wird eine eindeutige Zuordnung auch in der Gegenrichtung behauptet. Wenn Information eine objektive Eigenschaft der RealitĂ€t ist, wĂ€re sie durch diesen Satz auch definiert.
am 5. September 2009 um 08:24 Uhr | #
So ist es!
am 22. Oktober 2009 um 09:44 Uhr | #
[…] betrĂŒgt wen?Erkennen durch WahrnehmungErkenntnis ohne WahrnehmungRealitĂ€t, Natur, KulturMeine unsterbliche SeeleWozu ist Schule da?Joachim Bauer und die […]
am 27. November 2009 um 19:20 Uhr | #
Ich stimme sehr weitgehend mit Deiner Position ĂŒberein - die Idee, allein ĂŒber “Konsens” so etwas wie “Wirklichkeit” zu kommen, greift zu kurz. Menschen sind zu aller erst biologische Wesen, die etwas in der Wirklichkeit tun - sie mĂŒssen grundlegende BedĂŒrfnisse erfĂŒllen, und dabei hilft es wenig, etwas wahrzunehmen und darĂŒber miteinander zu reden. Man konstruiert die Wirklichkeit, indem man arbeitet. Man weiĂ vielleicht gar nicht soviel ĂŒber die Welt, man kann jedoch eine ganze Reihe Dinge: Nahrung beschaffen, Werkzeuge und HĂŒtten bauen, etc. Ich habe ein wenig ausfĂŒhrlicher zu dem Thema in meinem Blog geschrieben.
Dabei bin ich der Meinung, daĂ auch das Beobachten bzw. jede Form von sinnlicher Wahrnehmung nicht ein passives Hinnehmen von Signalen ist, die irgendwo “drauĂen” produziert werden. Das sind vielmehr aktive Prozesse, die die Wirklichkeit in dem Moment formen, indem sie vermeintlich objektive Gegebenheiten wahrnehmen. Insofern besteht fĂŒr mich nicht unbedingt ein Widerspruch zwischen “Tun” und “Wahrnehmen”.
Mich wundert es ĂŒbrigens wenig, daĂ Du - als Biologe - den Aspekt des “Tuns” besonders betonst. Meine Sichtweise ist eher von soziologischen Fragestellungen geprĂ€gt, und mir fehlen denn auch in der konstruktivistischen Sichtweise eher Aspekte wie “Geschichte” und eine explizite Trennung zwischen der physikalischen Wirklichkeit und jener der von den Menschen selbst produzierten, gesellschaftlichen Wirklichkeit.
am 1. Dezember 2009 um 10:26 Uhr | #
Es ist das Eine, sich aus den begrifflichen Angeboten der Wissenschaften seine eigene, mehr oder weniger private Vorstellungswelt zusammenzustellen und die wissenschaftlichen Begriffe dazu in geeigneter Weise zurecht zu schnitzen. Dann kommt man zu Feststellungen wie âFĂŒr mich ist …â. Was kann ich dazu anderes sagen als âFĂŒr mich ist aber …â?
Etwas Anderes ist der Versuch, die Begriffe verschiedener Wissenschaften so zurecht zu schnitzen, dass sie widerspruchsfrei zusammenpassen, so dass der Soziologe sich mit dem Psychologen und dem Biologen so unterhalten kann, dass sie ĂŒber den gleichen Gegenstand reden, wenn sie einen Terminus wie âWahrnehmungâ benutzen. Jetzt sagt jeder âFĂŒr mich ist …â und keiner versteht den anderen. Mehr dazu in meinem Blogbeitrag âZwei Kulturen …â und âGehirn und Geist 2.
am 1. Dezember 2009 um 23:01 Uhr | #
Das sehe ich wohl nicht anders als Du. Ich habe meine grundsĂ€tzliche Position in meine Blog zusammengefaĂt.
Die oben verlinkten EintrÀge muà ich noch lesen - Kommentare folgen.
am 20. Juli 2011 um 09:19 Uhr | #
[…] Zu diesem Problem habe schon mehrfach geschrieben: Erkenntnis ohne Wahrnehmung, Reflexionen ĂŒber Konstruktivismus und Die GegenstĂ€ndlichkeit psychischer […]
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