Was macht der Mond, wenn keiner hinguckt?

21. Juli 2010 - 09:27 Uhr

Er scheint, möchte man meinen. Aber so einfach macht es sich mancher nicht, wie an auf manchem Blog lesen kann. In „Arte-Fakten“ oder „Der Freitag“ wird heiß darüber debattiert, ob es die Realität wirklich gibt und wenn ja, ob unsere Erkenntnis über die Realität „wahr“ sein kann und ob wir uns dessen sicher sein können.

Die Debatte darüber ist so alt wie die Philosophie, und die Anzahl der Antworten steigt mit der wachsenden Anzahl der Philosophen. Bei aller Unterschiedlichkeit der Antworten stimmen zumindest die mir bekannten u.a. darin überein, dass sie den Begriff der Realität einstellig, absolut fassen. Entweder es gibt die Realität oder es gibt sie nicht.

Für mich habe ich den Begriff der Realität dagegen zweistellig, relativ gefasst, wie beispielsweise den Begriff „Vater“. Man kann nicht absolut sagen, ob ein Mensch Vater ist oder nicht. Er ist es wirklich in Bezug auf seine Kinder, und er ist es nicht in Bezug auf alle anderen Menschen, und auch das wirklich.

Ebenso verhält es sich mit der Welt, in der wir leben. Diese Welt existiert nur in Bezug auf uns Menschen, und das in Wirklichkeit. Das ist so, seit wir in dieser Welt leben und weil wir in dieser Welt leben. Eine andere Annahme kann ich deshalb nicht denken, weil ich anders mich selbst nicht als wirklich denken könnte. Wie sollte ich leben, ohne Bezug auf die Welt?

Ich kann mir natĂĽrlich auch eine Welt vor dem Menschen und ohne ihn denken, aber eine solche Welt ist keine wirkliche, keine real existierende Welt. Die Welt, die heute wirklich existiert, ist die Welt, zu der ich in Beziehung bin.

Wenn der Begriff der Realität definiert wird als ohne den Menschen existierend, dann ist das der Begriff einer nicht wirklich, nicht real existierenden Welt sondern ein ideelles Konstrukt. Dieses entsteht, indem sich der Mensch aus dem Bild „herausrechnet“, das er sich von dieser seiner Welt gemacht hat. Im Unterschied zu einer Fiktion ist dieses Konstrukt aber denknotwendig, während eine Fiktion ein freies Produkt, wenn auch denkmögliches Produkt menschlichen Denkens ist. Der Begriff der Realität ist keine Fiktion, sondern ein denknotwendiges Konstrukt.

*

Wie kann man nun diese Realität, dieses Konstrukt erkennen? Kann man die Wahrheit über dieses Konstrukt herausfinden, und wenn ja - wie?

Unter den vielen Antworten auf diese Frage bemerke ich zunächst eine große Pauschalität. „Erkenntnis“ wird als einheitliche, qualitativ undifferenzierte Kategorie gefasst. Wo der Unterschied zwischen der auf Erfahrung beruhenden empirischen Erkenntnis und der dem Denken entspringenden Erkenntnis thematisiert wird, werden diese Kategorien meist dualistisch gefasst. Bekannte Kategorien, in denen diese Formen der Erkenntnis gefasst werden, sind beispielsweise Verstand und Vernunft oder Alltagserkenntnis – theoretische (wissenschaftliche, objektive) Erkenntnis. Beziehungen zwischen beiden, insbesondere Fragen danach, ob und wie beide auseinander hervorgehen, werden kaum thematisiert.

Das wirkt sich insbesondere bei der Frage nach dem Begriff der Wahrheit und den Kriterien der Feststellung der Wahrheit – der Übereinstimmung von Realität und Erkenntnis - aus. Wenn die Realität eine Welt ohne den Menschen ist, dann kann sie prinzipiell nicht empirisch erkannt werden, weil auch empirische Erkenntnis immer menschliche Erkenntnis ist, die nur mit dem Menschen möglich ist. Eine Welt ohne Menschen kann immer nur eine gedachte Welt sein, und die kann nur theoretisch – durch Denken – erkannt werden.

In der Erfahrung, in der Anschauung, in der Wirklichkeit ist uns nur unsere Welt gegeben, eben die von uns erfahrene, die von uns angeschaute wirkliche Welt, die Welt in Bezug auf uns. Deshalb sind logische Widersprüche unvermeidlich, wenn man versucht, im Experiment herauszufinden, wie die Realität außerhalb dieses Experiments ist. Das ist nicht die Aufgabe des Experiments, das ist die Aufgabe der Theorie.

*

Die Frage nach der Wahrheit unserer Erkenntnis, der empirischen wie der theoretischen, ist offensichtlich im Rahmen der Begriffe Realität – Erkenntnis nicht lösbar. Jede in diesem Rahmen mögliche Antwort führt zu logischen Widersprüchen. Man muss das Problem vielmehr in dem Zusammenhang lösen, aus dem heraus es entstanden ist, d.h. in den Zusammenhang mit dem menschlichen Leben.

Menschliche Erkenntnis ist nicht ohne den Menschen, nicht ohne das menschliche Subjekt möglich. Eine „objektive Erkenntnis“, eine „Erkenntnis ohne erkennendes Subjekt“/1/, wie sie Popper konstruiert, ist eine Fiktion und zudem ein Widerspruch in sich.

Menschliche Erkenntnis entsteht in der menschlichen Tätigkeit und hat in dieser eine erkennbare Funktion. Diese Funktion erfüllt sie im Rahmen der Steuerung der Tätigkeit als Kriterium der Bewertung ihres Erfolgs. Erkenntnis muss also nicht als Resultat von Erfahrung und Wahrnehmung aufgefasst werden, sondern als deren Voraussetzung. Erkenntnis entspringt nicht der Erfahrung, sondern dem Bedürfnis, das durch eine Tätigkeit befriedigt werden soll. In der Tätigkeit erfährt das Subjekt, ob und in welchem Maß die durch die jeweilige Erkenntnis gesteuerte Tätigkeit befriedigt wird und bewertet somit die steuernde Erkenntnis.

Eine erfolgreiche Tätigkeit ist nur möglich, wenn die Realität, auf die sich die Tätigkeit richtet, adäquat abgebildet wird, wenn die Erkenntnis also wahr ist. Die Erkenntnis muss die Realität dazu nicht vollständig abbilden. Man denke nur an die von Uexküll /2/ beschriebene Erkenntnis der Zecke. Aber auch das psychische Abbild der Zecke, das deren Tätigkeit steuert, muss wahr sein - bei Strafe ihres Todes durch verhungern.

Beim Menschen kommt hinzu, dass er nicht nur wie die Zecke vorwiegend über ererbte Erkenntnisse verfügt, sondern über die durch die Sprache vermittelte gesellschaftliche und darum theoretische Erkenntnis. Sie steuert eine besondere Tätigkeit, nämlich die Tätigkeit, in der die Menschen ihr empirisches Wissen gewinnen, das ihre praktische Tätigkeit steuert.

Theoretisches Wissen ist nicht Wissen über die unmittelbar und in der Erfahrung gegebene Realität, sondern Wissen über dieses Wissen und seine Gewinnung. Und eben darum ist es nicht der Erfahrung zugänglich, sondern nur dem Denken. Kriterium der Bewertung theoretischer Erkenntnis ist nicht die Realität, sondern menschliches Wissen über diese Realität.

 

Und was macht der Mond nun, wenn keiner hinguckt? Er scheint, anderes kann ich weder denken noch erfahren.

 

/1/ Popper, Karl R. (1995): Objektive Erkenntnis, Hoffmann u. Campe, Hamburg, S. 112

/2/ UexkĂĽll, Jacob von (1956): StreifzĂĽge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbeck.

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Linguistisches missing link gefunden?

10. April 2010 - 10:03 Uhr

Daniel Everett und die Sprache der PirahĂŁ haben den alten Streit der Linguisten ĂĽber die Frage, ob die Sprache dem Menschen angeboren ist, aufs Neue entfacht. Ausgezogen als christlicher Missionar, der brasilianischen Indianern die Bibel in deren eigene Sprache ĂĽbersetzen wollte, kam er nicht nur mit neuen Erkenntnissen ĂĽber die menschliche Sprache und deren Theorie zurĂĽck, sondern auch mit einem neuen Weltbild, in dem wie bei den PirahĂŁ weder der christliche noch ein anderer Gott einen Platz gefunden hat.

Sein nun auch in deutscher Sprache vorliegendes Buch „Das glücklichste Volk“ lässt uns an drei spannenden Reisen teilhaben. Da ist zum ersten die Reise in den brasilianischen Urwald, dessen fremde Natur ihn und seine Familie in sieben Jahren  nicht wenige Abenteuer bestehen lässt. Da ist zu anderen die Reise in eine fremde Kultur und zu einer fremden Sprache, die Everett anschaulich beschreibt und die wir nur staunend bewundern können. Und da ist zum dritten die Reise eines christlichen Missionars, die ihn durch das tiefe Eindringen in die Kultur der Pirahã vom christlichen Glauben zu einer nontheistischen Weltanschauung geführt hat.

Diese Reisen führten Everett auch zu einem Wechsel seiner wissenschaftlichen Auffassungen über die Natur der menschlichen Sprache. Ausgehend von dem Auffassungen Chomskys über eine letztlich allen Menschen angeborenen Universalgrammatik entwickelte er die Auffassung, das Sprache und Grammatik vielmehr durch die Kultur der Gesellschaft bestimmt werden. In dieser Auffassung steht er zwar nicht allein, nimmt aber Auffassungen der  der „kulturhistorischen Theorie“ anscheinend ebenso wenig zur Kenntnis wie etwa die Arbeiten Merlin Donalds über die kulturelle Determination neurophysiologischer Prozesse. Allein die empirische Analyse der Sprache der Pirahã und deren Grammatik führten ihn zu diesem Standpunkt.

Die Pirahã kennen keine Wörter für Zahlen, keine Wörter für Farben und keine Wörter für gestern und heute. Die Sprache der Pirahã kennt auch keine Nebensätze und keine Einbettungen. Das Pirahä gehört unter allen Sprachen der Welt zu denen mit der geringsten Zahl an Phonemen: Es gibt für Männer nur drei Vokale (i, a, o) und acht Konsonanten (p, t, k; s, h, b, g und den Knacklaut oder Glottisverschlusslaut (x) und für Frauen drei Vokale (i, a, o) und sieben Konsonanten (p, t, k, h, b, g und x. sie benutzen h an allen Stellen, wo Männer h oder s aussprechen). Frauen haben also weniger Konsonanten als Männer. Das ist zwar nicht einzigartig, es ist aber zumindest ungewöhnlich. (Zum Vergleich: Das Deutsche hat etwa 40 Phoneme, Dialekte haben oft noch mehr.)

Es fällt auf, dass die Beschreibung des Pirahã vor allem durch die Aufzählung fehlender Merkmale erfolgt, also durch die Beschreibung desen, was diese Sprache alles nicht hat. Diese dem Pirahã fehlenden Elemente werden jedoch von der linguistischen Theorie jedoch als Merkmale einer Sprache gefordert. Ihr Fehlen führt Everett zu dem Schluss, dass diese Theorien als allgemein gültige Paradigmata ungeeignet sind und ein anderes Erklärungsprinzip erforderlich ist.

Als dieses Erklärungsprinzip schlägt Everett das „Prinzip des unmittelbaren Erlebens“ (immediacy of experience principle, IEP) vor. Dieses Prinzip besagt, dass das Pirahã nur Aussagen enthält, die unmittelbar mit dem Augenblick des Sprechens zu tun haben, weil sie entweder vom Sprecher selbst erlebt wurden oder weil jemand, der zu Lebzeiten des Sprechers gelebt hat, ihr Zeuge war.

Die Gültigkeit dieses Prinzips ist nicht auf die Sprache beschränkt, sondern hat den Rang eines allgemeinen kulturellen Prinzips, das in allen Lebensbereichen der Pirahã wirkt. Er schreibt:

„Nach und nach fielen mir immer mehr Beobachtungen ein, die für den Wert des unmittelbaren Erlebens zu sprechen schienen. So erinnerte ich mich beispielsweise daran, dass die Pirahã keine Lebensmittelvorräte anlegen, nicht für mehr als einen Tag auf einmal planen und nicht über die entfernte Vergangenheit oder Zukunft reden - sie konzentrieren sich ganz offensichtlich auf das Jetzt, auf ihr unmittelbares Erleben. Das ist es!, dachte ich eines Tages. Das verbindende Element von Sprache und Kultur der Pirahã ist die kulturelle Beschränkung, nicht über irgendetwas zu sprechen, das über das unmittelbare Erleben hinausgeht.“ (S. 199)

und

„Das Prinzip des unmittelbaren Erlebens ermöglicht überprüfbare Voraussagen, und darin zeigt sich, dass es sich nicht nur um eine negative Aussage über etwas handelt, das im Pirahã fehlt, sondern um eine positive Behauptung über das Wesen dieser Grammatik und darüber, wie sie sich von anderen, allgemein bekannten Grammatiken unterscheidet.“ (S. 349)

Dabei handelt es sich offensichtlich nicht allein um Besonderheiten der Sprache, sondern auch um Besonderheiten des Erkenntnissystems der Pirahã, das sehr eng an die unmittelbare Wahrnehmung gebunden iat. So enthält dieses Erkenntnissystem keine Schöpfungsmythen oder andere Überlieferungen. Diesem Prinzip entspricht auch ihr einfaches Verwandtschaftssystem. Infolge der geringen Lebenserwartung leben gewöhnlich nur drei Generationen gleichzeitig nebeneinander, ein Wort – und damit ein Begriff – für „Urgroßvater“ fehlt – es ist nach diesem Prinzip auch nicht erforderlich.

Die Bedeutsamkeit der Wahrnehmbarkeit spiegelt sich auch darin wieder, dass die PirahĂŁ ein eigenes Wort benutzen, um die Wahrnehmbarkeit als kulturelles Konzept zu bezeichnen. Das herauszufinden, so berichtet Everett, hat ihn viel MĂĽhe gekostet. Er schreibt

„Offensichtlich beschreibt das Wort XibipĂ­Ă­o ein kulturelles Konzept oder eine Wertvorstellung, zu der es in unserer Sprache keine eindeutige Entsprechung gibt. NatĂĽrlich kann auch bei uns jeder sagen” lohn ist verschwunden” oder »Billv ist gerade aufgetaucht”, aber das ist nicht das Gleiche. Erstens benutzen wir fĂĽr Auftauchen und Verschwinden unterschiedliche Wörter, das heiĂźt, es sind auch unterschiedliche Konzepte. Noch wichtiger ist aber, dass wir uns zweitens vor allem auf die Identität der kommenden oder gehenden Person konzentrieren und nicht auf die Tatsache, dass sie gerade unseren Wahrnehmungsbereich betreten oder verlassen hat.SchlieĂźlich wurde mir klar, dass dieser Begriff das benennt, was ich als Erfahrungsschwelle bezeichne: den Vorgang, die Wahrnehmung zu betreten oder zu verlassen und sich damit an den Grenzen des Erlebens zu befinden.“ (S.196)

                               *

Diese und andere von Everett beschriebenen Besonderheiten der Kultur der Pirahã und ihrer Sprache habe ich mit besonderem Interesse zur Kenntnis genommen, bestätigen sie doch eigene theoretische Erwägungen über die Entstehung der menschlichen Sprache.

Unter anderem geht es mir bei diesen Überlegungen um die Frage, wie die Wörter einer Sprache zu ihren gesellschaftlichen Bedeutungen kommen. Wie kommt es dazu, dass alle Mitglieder einer Gemeinschaft mit einem bestimmten Wort die gleiche Bedeutung verbinden? In einer sprechenden Gesellschaft ist das klar: durch Lernen durch Wahrnehmung. Ein Kenner des Wortes sagt es und zeigt auf den Gegenstand. Beide nehmen den gleichen Gegenstand wahr und erzeugen das psychische Abbild dazu. Wie aber, wenn es noch keine Sprache gibt, in der sich die Individuen verständigen können?

Ich habe vorgeschlagen, ein hypothetisches Stadium vorsprachlicher Zeichen anzunehmen, das aus der Verwendung von Werkzeugen in der gemeinsamen arbeitsteiligen unmittelbar hervorgehen kann (vgl. Litsche 2004, S, 455ff.). In gemeinsamer Tätigkeit benutzte Werkzeuge sollten die die ersten „Träger“ gesellschaftlicher Bedeutungen gewesen, so wie sie es auch heute noch sind. Sie können in einer sprachlosen Kommunikation der Organisation kollektiver Tätigkeiten dienen. Wenn sich eine Gruppe von Menschen zum Zweck des Schneeschippens treffen, genügt es, die vorhandenen Werkzeuge auf die Anwesenden aufzuteilen, und jeder weiß, was er zu tun hat. Was mit einem Besen oder einer Schaufel zu tun ist, weiß jeder aus eigener Wahrnehmung.

Die entscheidende Bedingung für das Entstehen gesellschaftlicher Bedeutungen ist demnach die Benutzung von Werkzeugen in gemeinsamer, arbeitsteiliger Tätigkeit.

An die Stelle der „echten“ Werkzeuge können in der Planungsphase der Tätigkeit Spielzeuge oder farbige Kugeln als Zeichen für die Werkzeuge treten, um den gleichen Effekt zu erzielen. Die Bedeutung dieser Zeichen kann auch ohne Sprache durch Wahrnehmung kommuniziert werden, indem Zeichen und Werkzeug gemeinsam gezeigt werden.

Auf diese Weise kann ein ganzes System sprachloser Zeichen und gesellschaftlicher Bedeutungen geschaffen werden. Aus der ursprünglichen Kultur kollektiver Werkzeuge entsteht eine Kultur sprachloser Zeichen, in der eine umfangreiche Kommunikation ohne Sprache möglich wird. Einige Aspekte einer solchen Kommunikation habe ich auf meiner Website dargestellt.

Zeichen und gesellschaftliche Bedeutungen können also bereits vor der Sprache entstanden sein. Sie sind die Grundlage für den nächsten Schritt der Evolution, die Umwandlung der Laute der werdenden Menschen in sprachliche Zeichen. Die Sprache kann entstehen, weil bereits ein System vorsprachlicher gesellschaftlicher Zeichen und Bedeutungen vorhanden ist. Das ist das, was den rezenten Menschenaffen zur Ausbildung einer gesellschaftlichen Sprache fehlt.

Die nichtsprachlichen Zeichen, die wir heute benutzen, bedĂĽrfen immer eines Bezugs zur Sprache. Das unterscheidet sie von den hypothetischen vorsprachlichen Zeichen.

Ein solches vorsprachliches Zeichensystem würde Merkmale aufweisen, die Everett auch in der Sprache der Pirahã gefunden hat. In einer Kultur vorsprachlicher Zeichen sind keine Zeichen möglich, die Eigenschaften getrennt von deren gegenständlichen Trägern bezeichnen. Mit den vorsprachlichen Zeichen könnten also beispielsweise keine isolierten Farben und keine Zahlen dargestellt werden. Zahlzeichen und Farbzeichen sind nicht als anschaubare gegenständliche Zeichen möglich.

                          Xibipíío

Everetts Entdeckung hat meinen Wahrnehmungsbereich ungemein bereichert. Im PirahĂŁ finde ich viele Eigenschaften meines hypothetischen Systems vorsprachlicher Zeichen wieder. Mit der Beschreibung dieser Sprache nähert sich mein theoretisches Konstrukt nun der “Wahrnehmungsschwelle”.

Die Sprache der Pirahã erscheint mir als eine sehr ursprüngliche Sprache, die einer Kultur der vorsprachlichen Zeichen noch sehr nahe ist. Das Pirahã könnte so ein missing link im Prozess der Evolution der menschlichen Sprache sein, das die Lautsprache mit dem System der vorsprachlichen Zeichen verbindet.

 

Caroll, Lewis (1993): Alice im Wunderland, Lentz-Verlag, MĂĽnchen, S. 52.

Donald, Merlin (2008): Triumph des Bewusstseins * Die Evolution des menschlichen Geistes, ,

Litsche, Georg A. (2004): Theoretische Anthropologie * GrundzĂĽge einer theoretischen Rekonstruktion der menschlichen Seinsweise, Lehmanns Media-LOB, Berlin.

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Erkenntnistheorie, wie hältst du´s mit der Evolution?

28. Januar 2010 - 16:12 Uhr

Dem aufmerksamen Leser meines Blogs wird nicht entgangen sein, dass ich mich zurzeit verstärkt mit erkenntnistheoretischen Problemen befasse. Beim Vergleich verschiedener erkenntnistheoretischer Ansätze fiel mir auf, dass viele davon ausgehen, dass die menschliche Erkenntnis ein Resultat der Evolution ist. Das erschien mir solange nicht bemerkenswert, bis ich untersuchte, welche Rolle die These von der Evolution der Erkenntnis in der logischen Struktur der jeweiligen Erkenntnistheorie spielte.

Ich ersetzte die These, dass die menschliche Erkenntnis im Verlauf der Evolution entstanden ist durch die gegenteilige These und fragte mich, wie sich die jeweilige Erkenntnistheorie verändern würde, wenn man von einer kreationistischen Annahme ausginge und annähme, dass menschliche Erkenntnis geschaffen worden sei.

Zuerst prüfte ich meine erkenntnistheoretische Herkunft, die Erkenntnistheorie des Marxismus. Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, dass die grundlegenden Aussagen der marxistischen Erkenntnistheorie auch mit kreationistischen Voraussetzungen verträglich sind. Das war mir bisher noch nie aufgefallen. Für mich war – und ist – die Evolutionstheorie eine der essentiellen →Prämissen meines Denkens, und deshalb hatte ich die Evolutionstheorie auch für eine essentielle Prämisse der Erkenntnistheorie gehalten, die ich mir im Verlauf der Entwicklung meines wissenschaftlichen Denkens angeeignet hatte.

Erst als ich bewusst darĂĽber nachdachte, wurde mir klar, dass die Evolutionstheorie nicht essentiell fĂĽr die marxistische Erkenntnistheorie ist, auch wenn sie von sich das Gegenteil behauptet.

Danach prüfte ich andere mir bekannte Theorien der Erkenntnis und stellte fest, dass auch sie keine bestimmte Theorie der Entstehung der Erkenntnis erforderten, sondern mit unterschiedlichen Annahmen über die Entstehung ihres Gegenstandes verträglich sind.

Der Grund für diesen Sachverhalt liegt wohl im Selbstverständnis der Erkenntnistheorie als philosophischer Disziplin. Das bedingt, dass der Gegenstand einer Erkenntnistheorie aus der Philosophie abgeleitet wird, als deren Bestandteil die Erkenntnistheorie entwickelt wird.

Früher dachte ich, dass eine Philosophie, welche wie der Marxismus die Evolutionstheorie zu ihren essentiellen Grundlagen zählt, dies nolens volens auf ihre Bestandteile überträgt. Erst allmählich begann ich zu begreifen, dass keine Philosophie eine wissenschaftliche Theorie zu ihren essentiellen Grundlagen zählt, weil das dem Wesen der Philosophie widersprechen würde. Philosophie befasst sich (u.a.) mit den allgemeinen Grundlagen aller Wissenschaft und ist deshalb verträglich mit jeder wissenschaftlichen Theorie. Philosophie begründet sich nicht wissenschaftlich, sie begründet vielmehr Wissenschaft philosophisch. Dem widerspricht nicht, wenn Philosophie mit Wissenschaft verträglich sein will. Deshalb sieht auch die Theologie vielfach keinen unüberbrückbaren Gegensatz zur Evolutionstheorie.

Philosophien unterwerfen sich keiner wissenschaftlichen Theorie, indem sie aus einer solchen abgeleitet werden. Wissenschaftliche Theorien sind zwar aus Philosophien ableitbar, nicht aber umgekehrt. Diese Beziehung ist implikativ, also von der Art wenn → dann, was heißt, dass die vorausgesetzte Philosophie auch dann wahr ist, wenn die abgeleitete wissenschaftliche Theorie falsch ist.

Eine philosophische Erkenntnistheorie kann daher die Frage nach der Entstehung der menschlichen Erkenntnis nicht als wissenschaftliches Problem stellen und daher auch nicht lösen. Sie beginnt mit einer philosophischen Antwort auf ein philosophisches Problem.

Die Evolutionstheorie kann nur dann eine essentielle Voraussetzung einer Erkenntnistheorie werden, wenn die Erkenntnistheorie aus der Evolutionstheorie abgleitet wird. Meine Erwartung, dies in der evolutionären Erkenntnistheorie zu finden, wurde jedoch enttäuscht. Das liegt schon in ihrem Ansatz. Konrad Lorenz, der wohl die erste evolutionstheoretisch hinreichend ausgearbeitete evolutionäre Erkenntnistheorie vorgelegt hat, nennt seine Schrift „Die Rückseite des Spiegels“ im Untertitel „Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens“, und das erste Kapitel hat den Titel „Das Leben als Erkenntnisvorgang“.

Mit der Qualifizierung des Erkenntnisprozesses als biotischer Prozess wird der Erkenntnisprozess aber seiner kulturellen und damit spezifisch menschlichen Qualität beraubt. Was untersucht wird, ist nicht der menschliche Erkenntnisprozess, sondern der biotisch-psychische Prozess der Entstehung psychischer Abbilder, wie sie auch von Tieren mit einem Zentralnervensystem gebildet werden. Die Frage nach der Spezifik des menschlichen Erkennens wird in diesem Kontext nur eliminiert, ist auch in diesem Kontext nicht formulierbar und muss deshalb unbeantwortet bleiben.

Der Grund für die fehlende Antwort auf die Frage nach der Entstehung der menschlichen Erkenntnis ist die Struktur der Evolutionstheorie selbst. Sie ist als naturwissenschaftliche Theorie im kausalistischen Paradigma der Naturwissenschaften angesiedelt und kann die Grenze des biologischen Verständnisses nicht überschreiten. Mit der Entstehung des Menschen hat die Evolution diese Grenze aber überschritten. Die Entstehung der menschlichen Erkenntnis kann im traditionellen naturwissenschaftlichen Verständnis nicht erklärt werden. Es bedarf also eines neuen Verständnisses der Evolution, um die evolutionäre Entstehung des Menschen zu verstehen.

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Gödel und die Evolutionstheorie

23. November 2009 - 10:37 Uhr

Die Menge unseres Wissens ist keine Enzyklopädie, in der die einzelnen Erkenntnisse wie Erbsen in einem Sack herumliegen und es gleichgültig ist, was sich wo befindet. Die Gesamtheit unserer Erkenntnis bildet vielmehr eine sinnvolle Ordnung, in der die einzelnen Elemente unseres Wissens bestimmten anderen Elementen auf bestimmte Weise zugeordnet sind. Diese Ordnung setzt uns in die Lage, diese Erkenntnis als Bild einer geordneten Welt zu benutzen, das es uns ermöglicht, uns in unserer Welt zu orientieren und unsere Aktionen zielstrebig zu steuern.

Diese Ordnung der Erkenntnis weist nun größere oder kleinere „Cluster“ auf, die jeweils Bereiche der Realität abbilden, wie Lebewesen, Wetter oder menschliche Werkzeuge. Diese Cluster sind nun relativ disjunkt, d.h. die Begriffe des einen Clusters eignen sich nicht zur Abbildung von Gegenständen eines anderen Clusters. So ist „Fortpflanzung“ ungeeignet zur Abbildung der Wolkenbildung. Beim Fehlen geeigneter Termini eines Clusters wird gelegentlich ein Terminus eines anderen Clusters benutzt, um gewisse Eigenschaften des zu beschreibenden Gegenstandes darzustellen. Das Bild des einen Gegenstandes wird dann als Metapher für das Abbild eines anderen Gegenstandes benutzt, In dieser Weise benutze ich hier beispielsweise das Wort „Cluster“.

Mit der Entstehung und Entwicklung der Wissenschaften sind die Cluster der umgangssprachlichen Erkenntnis zu den Gegenständen der verschiedenen Wissenschaften wie Physik, Biologie, Psychologie oder Linguistik geworden. In den Wissenschaften wurden die ursprünglichen Termini der umgangssprachlichen Erkenntnis präzisiert, umgestaltet, durch andere ersetzt und durch neue Termini ergänzt, die ihrerseits in verschiedener Weise ihren Weg zurück in die Umgangssprache gefunden haben und finden. Auf den Punkt gebracht hat diese Disjunktheit wissenschaftlicher Theorien Kurt Gödel mit der Formulierung des Unvollständigkeitssatzes. Dieser besagt, dass es in hinreichend mächtigen Systemen Aussagen geben muss, die man formal, d.h. innerhalb dieses Systems, mit dessen Mitteln weder beweisen noch widerlegen kann. Ein solcher Beweis ist nur in einer anderen Theorie möglich.

Da die Menschen nun ĂĽber mehrere solcher Erkenntnissysteme verfĂĽgen, pflegen sie bei der Beschreibung einer Erscheinung mĂĽhelos und meist unreflektiert zwischen verschiedenen Erkenntnissystemen zu wechseln.

So lässt sich zunächst problemlos die Aussage formulieren, dass es Konstellationen chemischer Entitäten geben kann, welche die Eigenschaften des Lebens wie Selbsterhaltung, Fortbewegung und die Fähigkeit zu zielstrebigen Bewegungen aufweisen. Die Termini, mit denen hier chemische Entitäten beschrieben werden, sind aber keine Termini der Chemie, sondern der Biologie und anderer Wissenschaften, die in der chemischen Theorie nicht definiert werden können und dort daher keine Bedeutung haben. Die Aussage ist von gleicher Art wie etwa die Aussage „Das Wasserstoffatom ist grün.“ Die Wörter für Farben sind keine Termini der Kernphysik.

Die Beschreibung der genannten Eigenschaften gewisser chemischer Entitäten nur mit Termini der Chemie ist jedoch nicht möglich. Dazu sind vielmehr Termini der Biologie erforderlich, die nicht aus denen der Chemie abgeleitet werden können sondern auf der Grundlege eigenständiger Wahrnehmungen neu gebildet werden müssen. Der Streit darum wird seit Jahrhunderten bis auf den heutigen Tag als Mechanismus-Vitalismus-Streit ausgefochten. Ein ähnlicher Streit tobt heute zwischen Psychologie und Neurophysiologie um die Frage, ob die psychischen Prozesse vollständig auf neurophysiologische Vorgänge zurückgeführt werden können oder nicht. Allgemein gesprochen geht es auf hier um das Problem es Reduktionismus, d.h. um die Frage, ob alle Erscheinungen der Welt in einer einzigen, einheitlichen Theorie abgebildet und erklärt werden können.

Die Anhänger des Reduktionismus begründen ihre Auffassung letztlich damit, dass ja die Welt eine einheitliche Welt sei, die auch in einer einheitlichen Theorie abgebildet werden kann. Diese Auffassung basiert letztlich und meist unreflektiert auf einem empiristischen Konzept der Erkenntnis, das Erkenntnis auf die Realität zurückführt. Betrachtet man die Erkenntnis als autonome und konstruktive Leistung eines tätigen Subjekts, wird diese Begründung gegenstandslos. Erkenntnis kann nicht durch die Eigenschaften der erkannten Realität erklärt werden, sondern nur durch die Bedürfnisse des tätigen Subjekts.

Da (menschliche) Erkenntnis nur durch Sprache (und andere Gegenstände der Kultur) ausgedrückt werden kann, kann die Frage nach der Möglichkeit einer einheitlichen Theorie nur durch die Untersuchung der Eigenschaften dieser Erkenntnismittel beantwortet werden. Etwas vereinfacht lautet diese Frage dann: “Können alle möglichen Sätze in einer einheitlichen Sprache abgeleitet und bewiesen werden?“

Versteht man den Gödelschen Unvollständigkeitssatz in einem solchen allgemeinen Sinn, dann heißt die Antwort „Nein“. Menschliche Sprache muss notwendig in Clustern organisiert sein, die nicht vollständig auseinander abgeleitet und bewiesen werden können.

Chemie, Biologie, Neurophysiologie, Psychologie usw. werden spezielle Fachsprachen verwenden, die nicht aufeinander zurückgeführt werden können. Damit aber ist ein neues Dilemma eröffnet: Wie kann dann eine Evolutionstheorie konstruiert und bewiesen werden, die ja den Übergang zwischen den in unterschiedlichen Erkenntnisclustern abgebildeten Realitätsbereichen behauptet? Leben entsteht danach aus chemischen Prozessen, Psyche aus neurophysiologischen Prozessen usw.

Bei der Erklärung solcher Prozesse muss immer der Übergang zwischen Theorien bewältigt werden, die in disjunkten Erkenntnisräumen abgebildet werden. Es geht also nicht darum, den Übergang zwischen unterschiedlichen Realitätsbereichen zu verstehen, sondern um den Übergang zwischen unterschiedlichen Erkenntnisbereichen mit unterschiedlichen Terminologien.

In den Naturwissenschaften führt dieser Umstand zu Problemen, die sich aus der Theorie der Evolution ergeben. Die Evolutionstheorie behauptet, dass sich Entitäten eine Realitätsbereichs aus Entitäten anderer Realitätsbereiche entwickelt haben. So soll Leben aus chemischen Prozessen, Psyche und Geist aus neurophysiologischen Prozessen hervorgegangen sein. Nicht einmal diese Fragen lassen sich hinreichend exakt formulieren, denn sie erfordern die gleichzeitige Anwendung von Termini unterschiedlicher Erkenntnisbereiche, die in dem jeweils anderen Erkenntnisbereich nicht definierbar sind wie etwa die Frage „Welche Farbe haben Atome?“.

Der Versuch, den Übergang von einem Realitätsbereich zu einem anderen innerhalb einer einheitlichen Theorie abzubilden, endet gewöhnlich in Konstrukten wie „Fulguration“, „Emergenz“ oder in irgendeiner Schöpfungstheorie.

Akzeptiert man jedoch den Gödelschen Unvollständigkeitssatz, dann kann man akzeptieren, dass Übergänge zwischen Realitätsbereichen mit in einer, sondern mindesten mit zwei Theorien abgebildet werden müssen. Es muss also die Frage beantwortet werden, wie der Übergang von einem Realitätsbereich zum anderen durch den Übergang von einer Theorie zur anderen abgebildet werden kann.

Dieser Übergang wird bewältigt durch eben die Aussagen, die in einer Theorie zwar gebildet, aber nicht bewiesen werden können. Nehmen wir als Beispiel die Entstehung des Lebens. In der Theorie der Chemie lässt sich die Aussage formulieren: „Leben ist ein chemischer Prozess, durch den sich mindestens ein Reaktionspartner unverändert erhält.“ Diese Aussage enthält kein Wort, das in der Fachsprache der Chemie nicht definierbar wäre. Der Beweis dieses Satzes jedoch erfordert Termini, die nicht Bestandteil der Fachsprache der Chemie sind, sondern der Fachsprache der Biologie entnommen sind und dort beispielsweise der Beschreibung der Orte dienen, an denen diese Prozesse stattfinden, z.B. „Ribosom“. Im Reagenzglas der Chemiker finden solche Prozesse nicht statt. Beim Übergang zwischen Begriffssystemen spielen →bivalente Begriffe eine besondere Rolle.

Wenn wir den Ăśbergang zwischen Theorien logisch und erkenntnistheoretisch beherrschten, bräuchten wir weder eine Weltformel noch Begriffe wie „Emergenz“, die unser Unwissen nur verbergen. Wir brauchen also nicht „eine „Theorie fĂĽr alles“, sondern fĂĽr jedes seine Theorie, die wir mit allen anderen logisch und semantisch widerspruchsfrei gestalten können ohne unsere Unkenntnis hinter Worten wie “Emergenz” usw, zu verbergen.

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Wer betrĂĽgt wen?

22. Oktober 2009 - 09:44 Uhr

Neulich (3.10.09) sah ich im Fernsehen (NDR) ein Experiment, in dem die Wissenschaftler sich bemühten, den menschlichen Geruchssinn zu untersuchen. Sie ließen die Versuchspersonen mit der abgebildeten Apparatur drei Mal den gleichen Kaffeeduft riechen, wobei sie vorgaben, jeder Kaffee sei in einer anderen Kaffeemaschine erzeugt worden. Die Versuchspersonen kamen zu dem vorhersehbaren Ergebnis, dass der Kaffee aus der teuren, modernen Kaffeemaschine am besten röche, der aus der billigsten am schlechtesten.

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Bildquelle

Bei der Interpretation dieser Ergebnisse wurde gesagt, dass die Sinne offensichtlich den Verstand betrögen und ihm Informationen vorspielten, die es in der experimentell erzeugten Realität so nicht gab.

Der erkenntnistheoretische Hintergrund dieser „wissenschaftlichen“ Untersuchung ist offensichtlich und unreflektiert das empiristische Konzept der Wahrnehmung. Die Autoren haben offensichtlich die erkenntnistheoretische Diskussion der letzten 50 Jahre und die dieser zugrunde liegenden Ergebnisse der Wahrnehmungsforschung einfach nicht zur Kenntnis genommen. Jeder auch nur oberflächlich mit den modernen Ideen zum Thema vertraute Leser kann diese Konstruktion leicht auseinander nehmen.

Da die Versuchspersonen ja vorher wissen mussten, welchen Kaffeeduft sie prĂĽfen, haben sie dieses gedankliche Bild den wahrgenommenen Stoffen als Information aufmoduliert und so zum “Duft” gemacht. Das „prĂĽfende“ Subjekt hat mit seinem Verstand hat die Information erzeugt, die dann von den DĂĽften als Träger dieser Information ĂĽber die Nase aufgenommen wurde. Der Duft selbst ist dafĂĽr relativ unbedeutend. Erst der Verstand bestimmt, wie ein Stoff riecht.

Nicht die Sinne haben also den Verstand betrogen, sondern höchstens umgekehrt.

Der Sinn solcher „Untersuchungen“ liegt auf der Hand: Wie sollte man sonst Werbung organisieren? Vielleich über den Verstand? Da kann man den mündigen Verbraucher nicht „wissenschaftlich begründet“ manipulieren und zu entmündigen versuchen. Der denkende Verbraucher - eine Horrorvostellung für Werbung.

 

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Erkennen durch Wahrnehmung

29. September 2009 - 09:57 Uhr

Im vorigen Beitrag habe ich gezeigt, dass die Kategorie Erkenntnis auch ohne die Kategorie der Wahrnehmung konstruiert werden kann, wenn die Kategorie der Tätigkeit zugrunde gelegt wird. Die vom Subjekt konstruierten psychischen Abbilder werden in diesem Konstrukt nicht durch Wahrnehmung mit der Realität verbunden, sondern durch die Tätigkeit. Die Tätigkeit der Subjekte wird mittels der konstruierten psychischen Abbilder gesteuert, die durch den Erfolg der Tätigkeit verifiziert werden.

Man kann sich vorstellen, eine Bewegung auch durch Töne, beispielsweise eine Melodie zu steuern. Man singt ein Lied und fĂĽhrt an bestimmten Stellen der Melodie bestimmte Richtungswechsel durch. So kann man ein Ziel auch mit geschlossenen Augen erreichen, ohne Wahrnehmung der Umwelt. Die Information zur Steuerung der Bewegung erhält die Melodie durch das Subjekt. – Die australischen Aborigines steuern auf diese Weise durch “Songlines“ ihre mehrere Tausend Kilometer langen Märsche durch ihr Land. Muster, die zur Steuerung geeignet sind, mĂĽssen nur eine „Melodie“, eine „Gestalt“ haben. Auch WĂĽrfeln liefert ein Muster, das aber hat keine Gestalt und kann deshalb nicht gerichtet steuern.

Diese Konstruktion erfordert die Annahme einer physikalischen Realität. Zum einen werden Subjekte als materielle, stofflich-energetische Systeme unterstellt. Es gibt also reale Subjekte. Diese Subjekte agieren. Dazu brauchen sie einen stofflich-energetischen Input, d.h., Subjekte können nur in einer stofflich-energetischen Umwelt existieren, in der sie einen stofflich-energetischen Input generieren, der ihre Erhaltung gewährleistet. Diese Umwelt muss ebenso real sein wie das Subjekt selbst.

Solange das Subjekt nicht einer funktionellen Komponente zur Wahrnehmung ausgestattet ist, entfällt auch die Notwendigkeit, eine gesonderte informationelle Beziehung zwischen dem konstruierten psychischen Bild und der Umwelt auszuarbeiten. Die Beziehung Subjekt-Umwelt ist rein stofflich-energetisch und wird durch die Tätigkeit realisiert. Das befriedigte Bedürfnis bestätigt, dass das subjektive Konstrukt ein zutreffendes Bild der Realität war, Wahrnehmung ist (noch) nicht erforderlich.

wahrnehmung11.jpg

  Schema 1: Stofflich-energetische Steuerung der Tätigkeit durch den Erfolg (die Outputs sind autonome Leistungen des Subjekts)

Die organische Welt besteht zum größten Teil aus Lebewesen, die zwar tätig sind, und das erfolgreich, ohne über funktionelle Komponenten zu verfügen, die sie zur Wahrnehmung befähigen würden. Ihre Bilder der Realität sind keine psychischen Entitäten, sondern basieren beispielsweise auf chemischer (z.B. hormoneller) Basis. Nur Lebewesen, die mit einem neuronalen System ausgestattet sind besitzen auch eine Psyche und können psychische Bilder erzeugen. Nur diese sind auch mit Sinnesorganen und der Fähigkeit der Wahrnehmung ausgestattet. Das Leben bringt Psyche und Wahrnehmung also erst auf einer bestimmten Stufe der Evolution hervor.

wahrnehmung2.jpg

Schema 2: Informationelle Steuerung (der informationelle Output des Signalgebers wird auf die Steuerkomponente ĂĽbertragen und von dieser zum psychischen Bild und zur informationellen Output verrechnet)

Im Unterschied zur Tätigkeit ist die Wahrnehmung keine stofflich-energetische Beziehung des Subjekts zur Realität, sondern eine informationelle. Bei der Wahrnehmung nehmen die Subjekte weder Substanz noch Energie auf, sondern Informationen. Diese sind nicht durch stoffliche oder energetische Parameter gekennzeichnet. Deshalb können sie auch keine Beziehung des Subjekts zu einer stofflich-energetischen Realität abbilden. Da die Mainstreamerkenntnistheorie nicht auf der Tätigkeit, der stofflich-energetischen Beziehung des Subjekt zur Realität, aufbaut, sondern nur von der Wahrnehmung ausgeht, kann sie keine Beziehung zwischen psychischen Bildern und Realität erkennen. In dieser Sicht wird die Tätigkeit infolge des fehlenden Ergebnisses auf eine ziellose Bewegung reduziert, die keinen Sinn hat.

wahrnehmung2a.jpg

Schema 3: Wahrnehmung ohne stofflich-energetischen Input - konstruktivistische Variante

Ohne eine auf den Erfolg – die Selbsterhaltung des Subjekts – gerichtete Tätigkeit kann es keine Bewertung der Informationen geben die das Subjekt erzeugt. Das ist auch dann nicht der Fall, wenn man ein empiristisches Wahrnehmungskonzept annimmt.

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Schema 4: Wahrnehmung ohne stofflich-energetischen Input - empiristische Variante

Erst wenn die Tätigkeit als materielle Aktion von Subjekt in das Modell der Wahrnehmung einbezogen wird, kann die Umwelt nicht mehr nur, nicht mehr ausschließlich als gedankliches Konstrukt gedacht werden. Der vom Sensor erzeugte Input aus der Umwelt erhält seinen informationellen Gehalt ebenfalls aus dem Erfolg der materiellen Tätigkeit. Der Umweltinput auf den Sensor enthält ebenso wenig Information wir der stofflich-energetische Input. Information erhält er erst, indem das Subjekt den Erfolg der Tätigkeit bewertet, die durch diesen Input gesteuert wird,

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Schema 5: Steuerung der Tätigkeit durch Wahrnehmung mit stofflich-energetischen Input - tätigkeitsttheoretische Variante

Das tätigkeitstheoretische  Konzept der Wahrnehmung erhält zwar das konstruktivistische Moment, erhält aber zugleich die Verbindung zur Realität. Vom empiristischen Konzept ĂĽbernimmt es die Auffassung, dass die Realität Information trägt, sieht diese aber nicht als “objektiv”, unabhängig vom Subjekt, sondern als subjektive, vom Subjekt erzeugte Eigenschaft der Realität.

Ich denke, dass man sich von der Idee verabschieden muss, die Realität enthielte objektive Informationen, die vom Subjekt „aufgenommen“ würde. Erst das Subjekt verleiht der Realität die Information, „objektive“ Information, Information ohne Subjekt ist ein Widerspruch in sich. Bei der Wahrnehmung nimmt das Subjekt Information nicht auf, sondern erzeugt sie und „moduliert“ sie der Umwelt auf. Durch den Erfolg der Tätigkeit bewertet das Subjekt die Information.

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Erkenntnis ohne Wahrnehmung

19. August 2009 - 15:23 Uhr

Die bislang radikalste Form, die Realität aus der Erkenntnis zu entfernen, sind die Erkenntnistheorien des der Konstruktivismus. Der Konstruktivismus bestreitet zwar nicht die Existenz einer objektiven, d.h. vom Menschen unabhängigen Realität, er bestreitet aber, dass unsere Wahrnehmung uns ein Bild dieser Realität liefern kann. Mit dieser These wirft der Konstruktivismus nicht nur die Wahrnehmung als Prozess der Erkenntnisgewinnung über Bord, sondern auch den Abbildcharakter der Erkenntnis schlechthin. Erkenntnisse sind im konstruktivistischen keine Abbilder einer von diesen Abbildern unabhängigen Realität, sondern freie Konstrukte des denkenden Subjekts.

Diese Argumentation zeigt, wie verhaftet der Konstruktivismus noch mit der empiristischen Erkenntnistheorie ist. Das Abbild kann nur als auf Wahrnehmung beruhendes Abbild verstanden werden. Die unreflektierte Annahme, Erkenntnis beruht letztlich auf Wahrnehmung, kennzeichnet auch die Diskussion im Blog Arte-Fakten. Es ist das Verdienst des Konstruktivismus nachgewiesen zu haben, dass eine solche Abbildtheorie mit den Ergebnissen der modernen Neurophysiologie unvereinbar ist. Das impliziert aber nicht die Annahme, dass die Erkenntnistheorie grundsätzlich keine Abbildtheorie sein kann. Erkenntnisse müssen nur als Abbilder der Realität aufgefasst werden, die auf andere Weise als durch Wahrnehmung zustande kommen. Mit dieser Annahme entfällt die logische Notwendigkeit, auch die Kategorie der Realität aus der Erkenntnistheorie zu entfernen. Sie erweist sich vielmehr als Denknotwendigkeit, denn ohne die Kategorie der Realität bliebe auch die Kategorie des Abbildes inhaltsleer.

Eine Lösung dieses Problems besteht darin, die Kategorie der Erkenntnis zwar nicht ohne Realität, aber ohne Wahrnehmung zu konstruieren. Erkenntnisse bleiben dann wie im Konstruktivismus freie Konstrukte des Subjekts. Da der Konstruktivismus mit der Wahrnehmung auch die Realität aus der Erkenntnis entfernt hat, fehlt ihm auch das zweite Glied, um die Erkenntnis als Abbildrelation zu konstruieren. Mit der Einbeziehung der Realität als Denknotwendigkeit in den Erkenntnisbegriff ist diese logische Hürde überwunden. Erkenntnis kann nun verstanden werden als freie subjektive Konstruktion von Abbildern der Realität. Abbilder der Realität müssen nicht durch Wahrnehmung entstehen, sie können auch konstruiert werden.

Damit stellt sich die Frage nach der „Zuordnungsvorschrift“, nach der die freien Konstrukte der Realität als deren Abbild zugeordnet werden sollen. Diese Zuordnungsvorschrift kann nicht mehr durch den Wahrnehmungsprozess begründet werden. Der Konstruktivismus bietet zwei Kriterien an, nach denen Konstrukte zu bewerten sind: den Konsens und die Eignung als Orientierungsgrundlege.

Die letztgenannte Bestimmung ist eine der Hilfskonstruktionen, durch die der Realität quasi durch die Hintertür wieder Einlass in die konstruktivistische Erkenntnistheorie verschafft wurde, denn die Notwendigkeit der Orientierung ist nur durch die Annahme einer Realität begründbar, in der sich das Subjekt orientieren muss. In dieser Konstruktion wird auch die Wahrnehmung wieder in die konstruktivistische Theorie eingeführt, denn die Orientierung erfolgt in dieser Sicht weiter über die Sinnesorgane. Auch in diesen Versionen des Konstruktivismus bleibt weiterhin bestritten, dass durch die Orientierung über die Sinnesorgane ein Abbild der Realität entsteht.

In dieser Argumentation macht sich eine weitere Enge der Sichtweise der konstruktivistischen Erkenntnistheorie bemerkbar. Sie kennt keine andere Verbindung zwischen Subjekt und Realität als die Wahrnehmung. Betrachtet man das Subjekt aber als tätiges Subjekt, das sich durch seine Tätigkeit selbst erhält, dann erweist sich die Tätigkeit eine eigenständige und unmittelbare Verbindung zwischen Subjekt und Realität, die keiner Vermittlung durch Sinnesorgane bedarf (wenn sie diese auch zulässt).

Eine erfolgreiche Tätigkeit, durch die sich das Subjekt tatsächlich erhält, begründet eine eindeutige Zuordnungsvorschrift, die das Konstrukt der Realität als deren Abbild (im Sinne eines mathematischen Abbildungsbegriffs) zuordnet. In dieser Sicht ist die Erkenntnis ein konstruiertes Bild für die Realität und nicht mehr wie im Empirismus ein Bild von der Realität, sie ist nicht mehr deren Widerspiegelung.

Bleibt die Frage, wie nun die Wahrnehmung mit der Erkenntnis zusammenhängt. Offensichtlich ist, dass Erkenntnis nie ohne Beteiligung der Wahrnehmung erfolgt, sie erklärt sie nur nicht. Wahrnehmung ist kein Erklärungsprinzip für Erkenntnis, es ist eher umgekehrt. – Aber das ist schon Stoff für einen neuen Beitrag.

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Realität, Natur, Kultur

21. Juli 2009 - 09:28 Uhr

Irgendwann führt die Reflexion der Ergebnisse des eigenen wissenschaftlichen wie politischen Denkens zur der Frage: „Warum denke ich eigentlich, was ich denke?“ Was sind die Voraussetzungen, die, meist unausgesprochen und unreflektiert, dem eigenen Denken zugrunde liegen und die den Ergebnissen des eigenen Denkens erst ihren Sinn geben?

Die Beantwortung dieser Frage erfordert eine neue Form des eigenen Denkens, denn sie kann nie einen Inhalt erlangen, den man bisher als „objektiv“ zu bezeichnen gewohnt war. Die zu erreichende Antwort ist in höchstem Maße subjektiv und war zumindest bei mir mit heftigen Emotionen und Gefühlsausbrüchen begleitet.

In seinem Blog „Arte-Fakten“ hat Jörg Friedrich mit seinen Ausführungen zum Realismus-Problem verdienstvoller Weise eine stellenweise auch emotional geführte Debatte ausgelöst. Manches erinnerte mich an meine eigene Auseinandersetzung mit diesem Problem. Manche Emotionen beruhen auch darauf, dass man einander nicht versteht, weil die Teilnehmer von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen, die sie zumindest in der Debatte nicht reflektieren. Aber eben diese Voraussetzungen würden aber erklären, warum der eine so und der andere so denkt.

Meine Antworten auf die Frage, warum ich in dieser oder jener Frage so und nicht anders denke, haben es mir ermöglicht, diese Diskussion mit Interesse und Vergnügen zu verfolgen. Einige dieser Antworten habe ich in Thesen zusammengefasst. Diese - vorläufigen - Resultate meines Denkens bilden nun die Voraussetzungen meines Denkens. Sie sind die Antwort auf die eingangs formulierte Frage nach dem „Warum?“ Wenn ich diese Prämissen ebenfalls der Frage nach dem Warum? unterziehen würde, dann hieße die Antwort: „Weil ich anders nicht denken kann.“ Hinter diesen Prämissen steht nichts mehr.

 

1.     Bewusstes, reflektierendes Denken muss mit der Frage anfangen, worüber es denkt, wovon es sich Gedanken macht. Gibt es etwas außer dem Denken, über das gedacht werden kann, oder denkt das Denken nur von sich selbst.

2.     Die Realität ist das, was es wirklich, außer dem Denken gibt und worüber gedacht wird. Eine Welt ohne Realität wäre eine solipsistische Welt.

3.     Die Realität gibt es (heute) nur in Bezug auf den Menschen, der Mensch mit der Realität wechselwirkt. Eine Realität ohne Mensch ist aber denkbar, der Mensch ohne Realität nicht.

4.     Die Realität ist also die Realität in Bezug auf den Menschen, eine Realität ohne Mensch gibt es heute nicht wirklich. Die Realität ohne Menschen ist ein Konstrukt, eine Realität ohne Menschen existiert (heute) nicht wirklich, sondern nur als Konstrukt. Dieses Konstrukt ist aber denknotwendig, wenn auch nicht evident. Ohne dieses Konstrukt können wir auch den Menschen in der Realität nicht denken. Ohne das Konstrukt einer Realität außer dem Menschen bleibt das Menschenbild solipsistisch, und ein solches Menschbild will ich nicht.

5.     Die Frage, ob es je (vor dem Menschen) eine Realität gab, kann nur durch eine Hypothese beantwortet werden. Eine Realität ohne Mensch kann nur als hypothetisches Konstrukt existieren, indem man den Menschen aus der Welt heraus denkt. Das Konstrukt „Realität ohne Mensch“ ist nicht verifizierbar, da Verifikation nur durch den Menschen erfolgen kann. Spätestens in der Verifikation muss der Mensch sich wieder in die Realität hineindenken.

6.     Folglich ist der Begriff „Natur“ auch ein Konstrukt. Real, wirklich ist nur die die menschliche Welt, die vom Menschen gemachte oder gedachte Welt. Das, worauf wir zeigen können, ist Artefakt, ist Kultur, die Natur können wir nur denken.

7.     Die Gesetze der Naturwissenschaften bilden folglich nicht die „Natur“ ab, sondern nur das, was der Mensch (z.B. der Experimentator) „gemacht“ hat. Dann denkt er sich raus aus der Tätigkeit und tut so, als ob es die Gesetze der Physik auch ohne ihn gäbe. Das aber ist nicht verifizierbar, aber denknotwendig. Tatsachen sind also im Sinne des Wortes Tat-Sachen, getane Sachen, nicht aber die Sache außer der Tat.

8.     Die Natur ist die Welt, aus welcher der Mensch „rausgerechnet“ wurde. Die Kultur ist die Welt, so wie sie wirklich (tatsächlich) existiert.

 In seinen Maximen und Reflexionen meint Goethe: „Wir wissen von keiner Welt, als im Bezug auf den Menschen; wir wollen keine Kunst, als die ein Abdruck dieses Bezugs ist.“ - Und ich will auch keine Wissenschaft, die nicht Abbild dieses Bezugs ist.

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Meine unsterbliche Seele

15. April 2009 - 08:25 Uhr

Neulich bin ich um Haaresbreite an einem Unfall vorbei geschrammt. Während ich auf die Polizei wartete, ging mir so mancherlei durch den Kopf. Was wäre gewesen, wenn … ? Ich mag gar nicht daran denken.

Warum will der Mensch eigentlich nicht sterben? Warum soll auch unser Nächster nicht sterben? Ich glaube, der Wunsch nach Unsterblichkeit führte zur Erfindung der Seele. Mit der Idee der unsterblichen Seele konnten Menschen die Sterblichkeit des Körpers, die Vergänglichkeit des Leibes leichter ertragen. Mit diesem Begriff war auch die „philosophische Grundfrage“ geboren, die nun in unterschiedlichem Gewand in Wissenschaften, Philosophien und Religionen ihr Unwesen treibt. Leib und Seele, Materie und Geist, Sein und Bewusstsein sind ihre bekanntesten Verkleidungen, und immer geht es darum, wem kommt das Primat zu?

 

Wenn die Idee der Unsterblichkeit aber nur einen törichten Wunsch unserer frühen Vorfahren erfüllt, warum befassen sich dann große Geister bis auf den heutigen Tag mit der Suche nach Antworten auf die Fragen nach Seele und Geist? Oder ist das Streben nach Unsterblichkeit vielleicht doch nicht nur törichter Wunsch sondern essentielles menschliches Bedürfnis? Brauchen wir dieses Streben, um unser Leben im Hier und Heute gestalten zu können? Und wenn der Geist nur ein Konstrukt unseres Denkens ist, ist die Hypothese des Geistigen dann notwendig? Können wir auch ohne die Annahme des Geistigen ein Weltbild gestalten, das es uns ermöglicht, uns in unserer realen Welt zielstrebig zu bewegen, oder würden wir ohne eine solche Annahme ziellos umher irren? Ist diese Annahme also denknotwendig?

Die Annahme einer unsterblichen Seele, eines ewigen Geistes in einer jenseitigen Welt erfordert auch weder die Annahme göttlicher Wesen noch impliziert sie diese. Die Annahme höherer, allmächtiger Wesen in den Religionen dient wohl nur dem Bedürfnis, die Herrschaft von Menschen über Menschen zu legitimieren. Unsterbliche Seelen könnten auch in einer Welt ohne Götter angenommen werden. Wozu dann ist aber die Annahme einer geistigen Welt erforderlich?

 

Seele, Geist und Bewusstsein sind ja Bestimmungen unseres Selbsts, es geht um unsere Seele, unseren Geist und unser Bewusstsein. Können wir uns uns selbst nun ohne Seele, ohne Geist und ohne Bewusstsein denken? Bereits Descartes konnte sich den Menschen zwar ohne Körper, aber nicht ohne Geist vorstellen.

Unser geistiges Leben manifestiert sich in den Schöpfungen unserer Kultur. Die Werkzeuge, die ich herstelle, die Bilder die ich male oder fotografiere und die Gedanken, die ich in Worte fasse, sind die Realität meines Geistes, für mich selbst und für die Anderen. Die Kultur ist die Existenzform meines geistigen Seins wie mein Körper die Existenzform meines körperlichen Seins ist. Mein materielles Sein ist endlich, aber auch nach dem Ende meines körperlichen Seins werden die Gegenstände der Kultur, in den mein geistiges Sein manifest ist, weiter existieren.

 

Sind sie aber darum ohne Seele, ohne Geist, nur weil mein Körper, der sie schuf,  nicht mehr ist? Das hängt ganz davon ab, in wessen Hände sie geraten. Ihre kulturellen Eigenschaften können sie nur entfalten, wenn sie von Menschen angeeignet werden. Nur Menschen können meinen Geist in ihrem Geist auferstehen lassen, indem sie meine Werkzeuge nutzen, meine Bilder betrachten und meine Worte lesen. Die menschliche Gesellschaft ist es, die meine Seele weiter leben lässt und meinen Geist unsterblich machen kann, so wie wir heute noch im Museum den Geist der frühen Menschen aufleben lassen, indem wir ihre Faustkeile bewundern.

Die Idee der unsterblichen Seele ist also offensichtlich eine Denknotwendigkeit, ohne die wir unser heutiges Leben weder verstehen noch gestalten könnten. Aber trotzdem, ich bin doch froh, am Leben geblieben zu sein.

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Wozu ist Schule da?

22. Februar 2009 - 10:46 Uhr

Cartoon 

Hans Traxler, Chancengleichheit, in: Michael Klant , [Hrsg.] , Schul-Spott : Karikaturen aus 2500 Jahren Pädagogik ,Fackelträger, Hannover 1983, S. 25

In ihrem Blogbeitrag „Gedanken zum individualisierten Unterrichten“ erörtert lisarosa Probleme der Gleichheit und Gerechtigkeit in den Anforderungen an die Schüler.

Das Bild suggeriert die Vorstellung, dass alle Menschen verschieden sind und deshalb ebenso wenig mit dem gleichen Maß zu messen seien wie die dargestellten Tiere. Dabei wird das individualistische Verständnis des Menschen auf die Betrachtung der Tiere übertragen. In diesem Verständnis wird unterstellt, dass die verschiedenen Tierarten ein ebenso solipsistisches Dasein fristen, wie es das Bild vom freien, individuellen Menschen vorgibt: Jeder ist seines Glückes Schmied.

Aber die einzelnen Arten der Lebewesen existieren nicht nebeneinander und unabhängig voneinander. Das Leben auf der Erde funktioniert nur als Lebensgemeinschaft, als Biozönose, in der die Verschiedenheit der Einzelnen die Bedingung für die Existenz des Ganzen ist. Löwen können nicht nur nicht ohne Gazellen leben, sondern Gazellen auch nicht ohne Löwen. Deshalb sind Löwen auch nicht den Auslesebedingungen für Gazellen unterworfen und umgekehrt.

Im Unterschied zu den Tieren ist die Verschiedenheit der Menschen jedoch nicht in ihren biologischen Unterschieden begründet, sondern sozialer Natur, denn sie ist in der Arbeitsteilung begründet. Jeder Mensch erfüllt eine spezifische Funktion, der Bäcker bäckt Brot und der Rechtsanwalt schützt Steuersünder von dem Gefängnis. Nur alle zusammen ermöglich die Existenz der jeweiligen Gesellschaft.

Die Vorbereitung auf eine Funktion kann aber nicht Aufgabe der allgemeinbildenden Schule sein. Hier müssen offensichtlich alle dasselbe Lernen, ob sie darin einen persönlichen Sinn sehen oder nicht. In diesem Umstand sind alle Probleme begründet, die heute von „der Schule“ zu lösen sind und die die aktuelle Diskussion um „die Schule“ bestimmen. Im von lisarosa erörterten Zusammenhang möchte ich wenigstens auf folgende hinweisen:

1.     Wie verstehen wir die Gleichheit der Schüler? In Deutschland (und wenigen anderen Ländern) scheint es mindestens drei „Sorten“ von Schülern zu geben, für die drei Schultypen erforderlich sind, Hauptschule, Realschule und Gymnasium. In anderen Ländern wie Finnland oder Schweden gibt es offensichtlich nur eine „Sorte“, denn sie leben mit der Einheitsschule für alle Kinder. Wenn (oder wo) alle Kinder „von Natur aus“ gleich sind, können sie auch in die gleiche Schule gehen.

2.     Unterschiedliche Schulen haben unterschiedliche Funktionen. Gymnasien haben die Funktion, Kinder auf die Hochschule vorzubereiten. Gymnasiasten sollen auf die Universität, Hauptschüler sollen einen praktischen Beruf erlernen. Für beide muss es unterschiedliche Kriterien geben. Elefanten und Robben gehören nicht in die gleiche Schule.

3.     Wenn das dreigliedrige Schulsystem aufgegeben werden soll, dann muss die Einheitsschule alle Schüler auf ein Hochschulstudium vorbereiten. Dazu – so die Befürworter des gegliederten Schulsystems – sind in Deutschland nicht alle Kinder geeignet. In Finnland oder Schweden sind sie es, und in der DDR waren sie es auch. Die Hochschulvorbereitung, auf die alle Kinder vorbereitet werden, schließt sich an die Einheitsschule an. Das „Gymnasium“ existiert nicht neben der Einheitsschule, sondern danach. Für alle sind die Kriterien gleich. Das Gymnasium wird nicht abgeschafft, sondern zur Einheitsschule für alle. Anders ist die Einheitsschule nicht denkbar.

4.     So stellt sich die Frage des persönlichen Sinns wieder anders. Welchen persönlichen Sinn soll ein Hauptschüler in einer Gesellschaft entwickeln, die ihm kaum eine berufliche und noch weniger eine universitäre Perspektive bietet? Ob „Yes we can“ das leistet? Der persönliche Sinn kann sich nur auf der Grundlege der gesellschaftlichen Bedeutung entwickeln, die eine Gesellschaft dem Einzelnen zuweist.

Zurück zum Bild: Wenn die Tiere wüssten, welche Funktion sie im Naturganzen haben, könnten sie ihren persönlichen Sinn finden. So aber leben sie sinnlos still vor sich hin.

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