Erkenntnistheorie, wie hältst du´s mit der Evolution?
Dem aufmerksamen Leser meines Blogs wird nicht entgangen sein, dass ich mich zurzeit verstärkt mit erkenntnistheoretischen Problemen befasse. Beim Vergleich verschiedener erkenntnistheoretischer Ansätze fiel mir auf, dass viele davon ausgehen, dass die menschliche Erkenntnis ein Resultat der Evolution ist. Das erschien mir solange nicht bemerkenswert, bis ich untersuchte, welche Rolle die These von der Evolution der Erkenntnis in der logischen Struktur der jeweiligen Erkenntnistheorie spielte.
Ich ersetzte die These, dass die menschliche Erkenntnis im Verlauf der Evolution entstanden ist durch die gegenteilige These und fragte mich, wie sich die jeweilige Erkenntnistheorie verändern würde, wenn man von einer kreationistischen Annahme ausginge und annähme, dass menschliche Erkenntnis geschaffen worden sei.
Zuerst prüfte ich meine erkenntnistheoretische Herkunft, die Erkenntnistheorie des Marxismus. Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, dass die grundlegenden Aussagen der marxistischen Erkenntnistheorie auch mit kreationistischen Voraussetzungen verträglich sind. Das war mir bisher noch nie aufgefallen. Für mich war – und ist – die Evolutionstheorie eine der essentiellen →Prämissen meines Denkens, und deshalb hatte ich die Evolutionstheorie auch für eine essentielle Prämisse der Erkenntnistheorie gehalten, die ich mir im Verlauf der Entwicklung meines wissenschaftlichen Denkens angeeignet hatte.
Erst als ich bewusst darüber nachdachte, wurde mir klar, dass die Evolutionstheorie nicht essentiell für die marxistische Erkenntnistheorie ist, auch wenn sie von sich das Gegenteil behauptet.
Danach prüfte ich andere mir bekannte Theorien der Erkenntnis und stellte fest, dass auch sie keine bestimmte Theorie der Entstehung der Erkenntnis erforderten, sondern mit unterschiedlichen Annahmen über die Entstehung ihres Gegenstandes verträglich sind.
Der Grund für diesen Sachverhalt liegt wohl im Selbstverständnis der Erkenntnistheorie als philosophischer Disziplin. Das bedingt, dass der Gegenstand einer Erkenntnistheorie aus der Philosophie abgeleitet wird, als deren Bestandteil die Erkenntnistheorie entwickelt wird.
Früher dachte ich, dass eine Philosophie, welche wie der Marxismus die Evolutionstheorie zu ihren essentiellen Grundlagen zählt, dies nolens volens auf ihre Bestandteile überträgt. Erst allmählich begann ich zu begreifen, dass keine Philosophie eine wissenschaftliche Theorie zu ihren essentiellen Grundlagen zählt, weil das dem Wesen der Philosophie widersprechen würde. Philosophie befasst sich (u.a.) mit den allgemeinen Grundlagen aller Wissenschaft und ist deshalb verträglich mit jeder wissenschaftlichen Theorie. Philosophie begründet sich nicht wissenschaftlich, sie begründet vielmehr Wissenschaft philosophisch. Dem widerspricht nicht, wenn Philosophie mit Wissenschaft verträglich sein will. Deshalb sieht auch die Theologie vielfach keinen unüberbrückbaren Gegensatz zur Evolutionstheorie.
Philosophien unterwerfen sich keiner wissenschaftlichen Theorie, indem sie aus einer solchen abgeleitet werden. Wissenschaftliche Theorien sind zwar aus Philosophien ableitbar, nicht aber umgekehrt. Diese Beziehung ist implikativ, also von der Art wenn → dann, was heißt, dass die vorausgesetzte Philosophie auch dann wahr ist, wenn die abgeleitete wissenschaftliche Theorie falsch ist.
Eine philosophische Erkenntnistheorie kann daher die Frage nach der Entstehung der menschlichen Erkenntnis nicht als wissenschaftliches Problem stellen und daher auch nicht lösen. Sie beginnt mit einer philosophischen Antwort auf ein philosophisches Problem.
Die Evolutionstheorie kann nur dann eine essentielle Voraussetzung einer Erkenntnistheorie werden, wenn die Erkenntnistheorie aus der Evolutionstheorie abgleitet wird. Meine Erwartung, dies in der evolutionären Erkenntnistheorie zu finden, wurde jedoch enttäuscht. Das liegt schon in ihrem Ansatz. Konrad Lorenz, der wohl die erste evolutionstheoretisch hinreichend ausgearbeitete evolutionäre Erkenntnistheorie vorgelegt hat, nennt seine Schrift „Die Rückseite des Spiegels“ im Untertitel „Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens“, und das erste Kapitel hat den Titel „Das Leben als Erkenntnisvorgang“.
Mit der Qualifizierung des Erkenntnisprozesses als biotischer Prozess wird der Erkenntnisprozess aber seiner kulturellen und damit spezifisch menschlichen Qualität beraubt. Was untersucht wird, ist nicht der menschliche Erkenntnisprozess, sondern der biotisch-psychische Prozess der Entstehung psychischer Abbilder, wie sie auch von Tieren mit einem Zentralnervensystem gebildet werden. Die Frage nach der Spezifik des menschlichen Erkennens wird in diesem Kontext nur eliminiert, ist auch in diesem Kontext nicht formulierbar und muss deshalb unbeantwortet bleiben.
Der Grund für die fehlende Antwort auf die Frage nach der Entstehung der menschlichen Erkenntnis ist die Struktur der Evolutionstheorie selbst. Sie ist als naturwissenschaftliche Theorie im kausalistischen Paradigma der Naturwissenschaften angesiedelt und kann die Grenze des biologischen Verständnisses nicht überschreiten. Mit der Entstehung des Menschen hat die Evolution diese Grenze aber überschritten. Die Entstehung der menschlichen Erkenntnis kann im traditionellen naturwissenschaftlichen Verständnis nicht erklärt werden. Es bedarf also eines neuen Verständnisses der Evolution, um die evolutionäre Entstehung des Menschen zu verstehen.
Kategorie: Allgemein, Erkenntnis, Evolution
am 10. März 2010 um 18:29 Uhr | #
“Die Evolutionstheorie kann nur dann eine essentielle Voraussetzung einer Erkenntnistheorie werden, wenn die Erkenntnistheorie aus der Evolutionstheorie abgleitet wird. Meine Erwartung, dies in der evolutionären Erkenntnistheorie zu finden, wurde jedoch enttäuscht.”
Dies mag zutreffen, wenn man sich auf die evolutionäre Erkenntnistheorie von Lorenz beschränkt, die sich aus der eng biologisch verstandenen Evolutionstheorie ableitet. Es ist jedoch zu beachten, dass Lorenz auch fragwürdige Übertragungen dieser engen Theorie auf soziale Verhaltensweisen vorgenommen hat.
Bereits Vollmer (Was können wir wissen?) hat 1988 m. E. diese enge Sicht überwunden und eine evolutionäre Erkenntnistheorie vorgelegt, die auf einem “neuen Verständnis der Evolution” beruht.
am 11. März 2010 um 16:40 Uhr | #
„Was können wir wissen?“ liegt mir gerade nicht vor, aber sein grundlegendes Werk „Evolutionäre Erkenntnistheorie“ (1975, 8. Aufl. 2002). Schon der Untertitel zeigt die Orientierung: „Angeborene Erkenntnisstrukturen im Kontext von Biologie, Psychologie, Linguistik, Philosophie und Wissenschaftstheorie“.
Erkenntnisfähigkeit wird als individuelle biologische Eigenschaft des Menschen verstanden. In diesem Kontext ist die Kategorie „gesellschaftliche Erkenntnis“ überhaupt nicht einzuordnen, die eben nicht biologisch verstehbar ist.
So kommt er beispielsweise zu folgender These:
„Woher kommen die apriorischen Anschauungsformen und Begriffe? Die Antwort läßt sich … als eine direkte Folgerung der evolutionären Erkenntnistheorie geben!
Danach gibt es Strukturen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, die den grundlegenden Umweltbedingungen (z. B. der Dreidimensionalität) Rechnung tragen. Diese Strukturen sind ein Produkt der Evolution, sie gehören zur genetischen Ausstattung, zum kognitiven “Inventar” des Individuums, sind also vererbt oder angeboren im weiten Sinne. Sie sind deshalb nicht nur unabhängig von aller (individuellen!) Erfahrung, sondern sie liegen vor aller Erfahrung, sie machen Erfahrung (z. B. dreidimensionale Erfahrung) überhaupt erst möglich. Sie sind zwar nicht denk notwendig, aber erfahrungskonstitutiv.“
In diesem Denkschema, das der ganzen evolutionären Erkenntnistheorie zugrunde liegt, kann nur individuelles Erkennen abgebildet werden, aber kein gesellschaftlicher Erkenntnisprozess und folglich auch keine Beziehungen zwischen beiden. Insbesondere kann die Entstehung („Evolution“) gesellschaftlicher Erkenntnis so nicht verstanden werden, denn sie entsteht nicht durch biotische Evolution, nicht durch Mutation, Auslese usw. Die Darstellung dieses Prozesses erfordert einen anderen Begriffsapparat als den der Biologie, und den sehe ich weder bei Vollmer noch bei anderen Vertretern der evolutionären Erkenntnistheorie.
am 14. März 2010 um 10:08 Uhr | #
Diese Antwort wirft für mich drei miteinander verbundene Fragen auf:
- Hat Vollmer in seinem ca 12 Jahre später entstandenen Werk “Was können wir wissen?” Standpunkte vertreten, die über das hinaus gehen, was er in seinem Grundwerk “Evolutionäre Erkenntnistheorie” beschreibt?
- Ist die “Evolutionäre Erkenntnistheorie” als eine abgeschlossene Theorie zu verstehen, die gerade dadurch charakterisiert ist, dass sie die Entstehung der Erkenntnisstrukturen auf rein biologische Evolutionsprozesse zurückführt?
- Wenn man unter “Evolutionstheorie” nicht nur die Darwin´sche biologische Evoluionstheorie versteht, sondern eine allgemeine Theorie der Evolution, dann kann ich in der von Georg Litsche dargestellten “gesellschaftlichen” Erkenntnistheorie keinen Gegensatz zur evolutionären Erkenntnistheorie, sondern nur eine konsequente Weiterentwicklung und Erweiterung dieser Theorie erkennen.
am 14. März 2010 um 15:22 Uhr | #
Zu 1: Mir ist dieses Werk gegenwärtig nicht präsent.
Zu 2.:Wenn „abgeschlossene“ gestrichen wird, ja.
Zu 3.:Selbst wenn diese Theorie schon ausgearbeitet vorläge: Nein, sie haben nicht einmal „gemeinsame Vorfahren“. Meine Theorie wurzelt eher bei Uexküll, Bertalanffy, von Holst, Anochin und anderen „Vergessenen“, die mehr oder weniger vordergründig an der Ausschließlichkeit des
Kauslitätsparadigmas kratzen.
am 22. April 2010 um 14:58 Uhr | #
G.L.
“Die Evolutionstheorie kann nur dann eine essentielle Voraussetzung einer Erkenntnistheorie werden, wenn die Erkenntnistheorie aus der Evolutionstheorie abgleitet wird. Meine Erwartung, dies in der evolutionären Erkenntnistheorie zu finden, wurde jedoch enttäuscht. Das liegt schon in ihrem Ansatz. Konrad Lorenz, der wohl die erste evolutionstheoretisch hinreichend ausgearbeitete evolutionäre Erkenntnistheorie vorgelegt hat, nennt seine Schrift „Die Rückseite des Spiegels“ im Untertitel „Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens“, und das erste Kapitel hat den Titel „Das Leben als Erkenntnisvorgang“.”
Die Aspekte der Widerspiegelung wurden auch von anderen Autoren ausführlich betrachtet. Ein aktiv gewordenes System muß seine Handlungen vorausberechnen können und muß sich selbst in seinem inneren Modell haben. Die Entwicklung von Bewußtsein ist also eine zwangsläufige Station der Evolution und keine menschliche Eigenschaft.
G.L.
“Der Grund für die fehlende Antwort auf die Frage nach der Entstehung der menschlichen Erkenntnis ist die Struktur der Evolutionstheorie selbst. Sie ist als naturwissenschaftliche Theorie im kausalistischen Paradigma der Naturwissenschaften angesiedelt und kann die Grenze des biologischen Verständnisses nicht überschreiten.”
Genau da liegt der Hund begraben. Aus diesem und anderen Gründen ist die Untersuchung der Informationsflüsse notwendig. Nur wenn man die Evolution als Ordnungs- und Informationssammelprozeß begreift schließt sich der Erkenntnisprozeß nahtlos an die rein biologische Entstehung an.
Gruß
Carsten Thumulla
–
http://ruthe.de/cartoons/strip_1041.jpg
am 24. April 2010 um 10:26 Uhr | #
@ Carsten Thumulla
Darüber kann man reden, wenn der Inhalt der Floskel “als” und der verwendete Informationsnegriff geklärt ist.
Gruß
G.L.
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