Wozu ist Schule da?

Cartoon 

Hans Traxler, Chancengleichheit, in: Michael Klant , [Hrsg.] , Schul-Spott : Karikaturen aus 2500 Jahren Pädagogik ,Fackelträger, Hannover 1983, S. 25

In ihrem Blogbeitrag „Gedanken zum individualisierten Unterrichten“ erörtert lisarosa Probleme der Gleichheit und Gerechtigkeit in den Anforderungen an die Schüler.

Das Bild suggeriert die Vorstellung, dass alle Menschen verschieden sind und deshalb ebenso wenig mit dem gleichen Maß zu messen seien wie die dargestellten Tiere. Dabei wird das individualistische Verständnis des Menschen auf die Betrachtung der Tiere übertragen. In diesem Verständnis wird unterstellt, dass die verschiedenen Tierarten ein ebenso solipsistisches Dasein fristen, wie es das Bild vom freien, individuellen Menschen vorgibt: Jeder ist seines Glückes Schmied.

Aber die einzelnen Arten der Lebewesen existieren nicht nebeneinander und unabhängig voneinander. Das Leben auf der Erde funktioniert nur als Lebensgemeinschaft, als Biozönose, in der die Verschiedenheit der Einzelnen die Bedingung für die Existenz des Ganzen ist. Löwen können nicht nur nicht ohne Gazellen leben, sondern Gazellen auch nicht ohne Löwen. Deshalb sind Löwen auch nicht den Auslesebedingungen für Gazellen unterworfen und umgekehrt.

Im Unterschied zu den Tieren ist die Verschiedenheit der Menschen jedoch nicht in ihren biologischen Unterschieden begründet, sondern sozialer Natur, denn sie ist in der Arbeitsteilung begründet. Jeder Mensch erfüllt eine spezifische Funktion, der Bäcker bäckt Brot und der Rechtsanwalt schützt Steuersünder von dem Gefängnis. Nur alle zusammen ermöglich die Existenz der jeweiligen Gesellschaft.

Die Vorbereitung auf eine Funktion kann aber nicht Aufgabe der allgemeinbildenden Schule sein. Hier müssen offensichtlich alle dasselbe Lernen, ob sie darin einen persönlichen Sinn sehen oder nicht. In diesem Umstand sind alle Probleme begründet, die heute von „der Schule“ zu lösen sind und die die aktuelle Diskussion um „die Schule“ bestimmen. Im von lisarosa erörterten Zusammenhang möchte ich wenigstens auf folgende hinweisen:

1.     Wie verstehen wir die Gleichheit der Schüler? In Deutschland (und wenigen anderen Ländern) scheint es mindestens drei „Sorten“ von Schülern zu geben, für die drei Schultypen erforderlich sind, Hauptschule, Realschule und Gymnasium. In anderen Ländern wie Finnland oder Schweden gibt es offensichtlich nur eine „Sorte“, denn sie leben mit der Einheitsschule für alle Kinder. Wenn (oder wo) alle Kinder „von Natur aus“ gleich sind, können sie auch in die gleiche Schule gehen.

2.     Unterschiedliche Schulen haben unterschiedliche Funktionen. Gymnasien haben die Funktion, Kinder auf die Hochschule vorzubereiten. Gymnasiasten sollen auf die Universität, Hauptschüler sollen einen praktischen Beruf erlernen. Für beide muss es unterschiedliche Kriterien geben. Elefanten und Robben gehören nicht in die gleiche Schule.

3.     Wenn das dreigliedrige Schulsystem aufgegeben werden soll, dann muss die Einheitsschule alle Schüler auf ein Hochschulstudium vorbereiten. Dazu – so die Befürworter des gegliederten Schulsystems – sind in Deutschland nicht alle Kinder geeignet. In Finnland oder Schweden sind sie es, und in der DDR waren sie es auch. Die Hochschulvorbereitung, auf die alle Kinder vorbereitet werden, schließt sich an die Einheitsschule an. Das „Gymnasium“ existiert nicht neben der Einheitsschule, sondern danach. Für alle sind die Kriterien gleich. Das Gymnasium wird nicht abgeschafft, sondern zur Einheitsschule für alle. Anders ist die Einheitsschule nicht denkbar.

4.     So stellt sich die Frage des persönlichen Sinns wieder anders. Welchen persönlichen Sinn soll ein Hauptschüler in einer Gesellschaft entwickeln, die ihm kaum eine berufliche und noch weniger eine universitäre Perspektive bietet? Ob „Yes we can“ das leistet? Der persönliche Sinn kann sich nur auf der Grundlege der gesellschaftlichen Bedeutung entwickeln, die eine Gesellschaft dem Einzelnen zuweist.

Zurück zum Bild: Wenn die Tiere wüssten, welche Funktion sie im Naturganzen haben, könnten sie ihren persönlichen Sinn finden. So aber leben sie sinnlos still vor sich hin.

Kategorie: Allgemein, Erziehung, Freier Wille, Schule, Tätigkeitstheorie

12 Reaktionen zu “Wozu ist Schule da?”

  1. Lisa Rosa

    Lieber Georg Litsche, vielen Dank für den aufschlussreichen Kommentar! Gruß: Lisa

  2. Georg Rückriem

    Einspruch euer Ehren!
    Menschen sind von Natur aus verschieden. Ich bin ein Mann, mit braunen Augen, einer Körpergröße von 184 cm und einer bestimmten Reflexgeschwindigkeit nicht erst aufgrund gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Als Menschen sind wir zwar alle gleich, dies aber zugleich in historisch konkreter Form. Das macht uns zu Individuen, hat aber mit dem ideologischen Bild des “freien Individuums” nichts zu tun.

    Die gesellschaftliche Arbeitsteilung bedeutet - nach Leont’ev - daß in der allgemeinen gegenständlichen Gerichtetheit des Menschen Ziel und Motiv einer Handlung auseinander fallen, so daß deren gelungene Ãœbereinstimmung als persönlicher Sinn erlebt wird (was übrigens kein bewußter Prozeß ist). Dieser Sinn wird in der gesellschaftlichen Bedeutung vergegenständlicht und bildet den Rahmen, den Anlaß oder Gegenstand zukünftiger persönlicher Neuschöpfungen von persönlichem Sinn. Das bedeutet aber nicht, daß objektive Bedeutung in persönlichen Sinn - in Diltheys Sprache: objektiver Geist in subjektiven Geist - umgewandelt würde.

    Tiere leben - immer noch nach Leont’ev - nur, wenn ihr Verhalten “biologisch” sinnvoll ist. Sie können gar nicht anders. Jeder Verstoß würde zu ihrem Tod führen. Das bedeutet weder, daß sie einen “persönlichen” Sinn kennen, noch daß sie “sinnlos still vor sich hin” leben.

  3. Sylvia

    Mal ne allgemeine Fragen. Wieso können Gazellen denn nicht ohne Löwen leben? Weil sie dann keiner Auffrist? Ich denke, dass die Natur in dem Fall sich etwas einfallen lassen würde, wie die natürliche Selektion und das darwinsche Prinzip weiter existieren könnten. Bei den Kanickeln hat es doch auch funktioniert, da hat eine Kanienchenseuche eben statt der natürlichen Feinde den Überschuss beseitigt.

  4. Georg Litsche

    In diesem Falle hat sich die Natur eben den Löwen einfallen lassen. Der sorgt – mit anderen Raubtieren – dafür, dass Gazellen nicht überhand nehmen und das ganze Gras auffressen. Dann würden nicht nur Gazellen und Löwen aussterben, sondern noch eine Reihe von Lebewesen, auch die Erreger mancher Seuchen.
    Die Natur besteht eben aus einem Netz von vielen verschiedenen Arten von Lebewesen, die miteinander im Gleichgewicht stehen. Wenn eine fehlt, wird dieses Gleichgewicht gestört. Dann bricht nicht gleich die ganze Natur zusammen, aber es fehlt eben etwas und die Natur ist vielleicht nicht mehr so schön.
    Und um das zu lernen, auch dazu ist Schule da.

  5. 1000Sunny

    Hat Leontev die Arbeitsteilung als so wichtig hingestellt (nur kleine Rückfrage) ? Hört sich ziemlich Durkheimisch an :)

  6. Georg

    Ich denke schon. Zumindest erklärt er die Menschwerdung mit der Entstehung der Arbeitsteilung. Leider verliert er diesen Gedanken später wieder aus den Augen.
    Die Bedeutung der Arbeitsteilung wird vor allem von in der Soziologie für bedeutsam gehalten, und zwar nicht nur von Durkheim.

  7. 1000Sunny

    Ich glaube mein letzter Kommentar ist verloren gegangen. Dort schrieb ich, dass auch Bienen oder Ameisen eine arbeitsteilige Gesellschaft haben - viel stärker noch als unsere.
    Kann also nicht die Menschwerdung erklären.
    Zu Durkheim gibt es hier eine kritische Vorlesung:
    http://www.youtube.com/watch?v=IfjycYvlZGg

  8. Georg

    @ 1000Sunny
    Wie bestimmst Du die Stärke der Arbeitsteilung?

  9. 1000Sunny

    Sieh die Gesellschaft als Fließband (ähnlich Mummford), jeder hat seinen Platz. Die Stärke der Arbeitsteilung bestimmt, was es benötigt den Platz zu verlassen und an einer anderen Stelle in der Produktion zu arbeiten.
    Bienen können meines Wissens gar nicht “umschulen”. In unserer Gesellschaft braucht man ca. 4 Jahre (je nach Tätigkeit) und dann noch einmal 5 Jahre, bis man das alte Gehaltsniveau erreicht (sozusagen eine gesellschaftlicher Malus für Verlassen des vorbestimmten Fließbandplatzes). In einer Gesellschaft mit Arbeitsteilung Stärke 0 könnte man frei seinen Platz wechseln (zur gleichen Zeit würde man jedoch immer noch die eine Arbeit erlernen/durchführen). So etwas schwebte Humboldt (W) und Marx vor.

  10. 1000Sunny

    Hier noch ein paar Gedanken dazu:
    http://freiebildung.wordpress.com/2010/03/10/freiheit-oder-zwang/

  11. Georg

    @ 1000Sunny:
    Was will der Kommentator damit sagen?
    Die Bienen betreffend: Arbeitsbienen führen in ihrem Leben mehrere “Berufe” aus: Amme, Putzbiene, Baubiene usw.
    Siehe: Bienen!

  12. Brandonpaync

    herbalist remedies https://forums.dieviete.lv/profils/127605/forum/ herbal life international


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