Schuld sind immer die Anderen

In den wissenschaftlichen Blogs gibt es vor allem im Zusammenhang mit der Evolutionstheorie eine andauernde Diskussion ĂĽber die Religionen. Nicht selten wird verwundert zur Kenntnis genommen, welchen z.T. auch wachsenden Einfluss die Religionen auf das Denken der Menschen haben. Ăśber die Ursachen wird nur selten reflektiert wie beispielsweise bei “Evil under the Sun“. Wenn, dann sind es immer die Anderen: reaktionäre Politiker, religiöse Fundamentalisten, Kreationisten oder verdummende Webseiten. In keinem Fall ist es die Evolutionstheorie selbst, die manche Menschen davon abhalten könnte, an die Evolution zu glauben.

Seien wir ehrlich: die meisten Menschen – und damit meine ich nicht nur Einwohner Lateinamerikas, Indien oder Afrikas, die millionenfach einfach keinen Zugang zu wissenschaftlichem Unterricht haben. Auch in Deutschland hat kaum jemand die Möglichkeit, all die „Beweise“ für die Evolution, die er in seinem Biologielehrbuch gelesen hat, wirklich zu prüfen. Er muss sie seinem Biologielehrer und anderen Personen seines Bekanntenkreises einfach glauben. Und glauben hängt mit Vertrauen zusammen, ich glaube dem, dem ich vertraue. Weiter Schlüsse daraus liegen auf der Hand, wenn man beispielsweise die Bildungsdiskussion in unserem Lande bedenkt.

Ich will jedoch einen anderen Aspekt dieses Problems darstellen. In „Evil under the Sun“ habe ich interessante Statistiken zur Religiosität in Deutschland gefunden. Unter anderen glauben 70% der Befragten (1000-2000 über 18J. Allensbach) an eine Seele. Unter den Werten, die für die befragten wichtig sind, kommt religiöser Glaube mit 18 bis 20% vor, eine wissenschaftliche Weltauffassung wird jedoch nicht als Wert genannt.

Die westliche wissenschaftliche Weltanschauung ist bekanntlich vom Paradigma der Kausalität geprägt, demzufolge jedes Ereignis eine äußere Ursache hat, auf die es zurückzuführen ist. Akausale Ereignisse, Ereignisse ohne Ursache, sind in diesem Denkschema nicht zugelassen. Deshalb kommen Entitäten wie eine Seele oder Ideen in diesem Gedankensystem nicht vor. Ihre Existenz wird verneint und nicht selten verächtlich als „unwissenschaftlich“ abgetan. Naturwissenschaftler werden nicht Seelsorger – schade!

So aber werden die Fragen der Menschen nicht beantwortet, das BedĂĽrfnis nach einer wissenschaftlichen Antwort bleibt unbefriedigt. Damit finden sich die Menschen aber ebenso wenig ab wie mit anderen unbefriedigten BedĂĽrfnissen, sie suchen nach Befriedigung ihrer BedĂĽrfnisse. Menschen wollen eine Seele haben und sich nicht als seelenloses Fleisch sehen, sie wollen nicht das Resultat eines blinden Zufalls sein sondern einen Sinn in ihrer Existenz sehen. Und wenn sie Antworten auf ihre Fragen nicht in der Wissenschaft finden, suchen sie diese eben anderswo.

Das kann sich erst ändern, wenn auch die Naturwissenschaft Antworten auf Fragen wie diese geben wird. Das aber ist nicht im Rahmen des Kausalitätsparadigmas möglich. Das Problem ist, das die Naturwissenschaft sich diesen Umstand nicht eingesteht und nicht einfach zugibt, dass es zwischen Himmel und Erde auch Dinge gibt, die sie innerhalb ihrer kausalistischen Schulweisheit nicht unterbringen kann. Im Gegenteil, sie hat es verstanden, auch empirische Daten, die sie selbst gewonnen hat und die mit dem Kausalitätsparadigma nicht zu vereinbaren sind, so zu „interpretieren“ dass sie „passen“, oder sie zu „unterschlagen“, anstatt darüber nachzudenken, was sie zur Lösung dieses Problems beizutragen.

Anekdote Beim Kolportieren der bekannten Newton-Anekdote, nach der ihm das Gravitationsgesetz eingefallen ist, als ihm ein Apfel auf den Kopf gefallen war, wird der Vogel unterschlagen, der ganz entgegen der Gravitation von allein wegflog.

 

In dem Maße, in dem sich das Kausalitätsparadigma zum Paradigma wissenschaftlicher Arbeit überhaupt entwickelte, wuchs auch die Menge der Daten, die nicht mit ihm vereinbar waren und die auf die eine oder andere Weise eingepasst werden musste. Dabei wurde viel Fantasie entwickelt, um die kausalistische Unerklärbarkeit gewisser Ereignisse zu verschleiern. Begriffe wie „Zufall“ oder „Emergenz“ erhielten so den Charakter einer letzten „Erklärung“, denn was als zufällig „erkannt“ war, entzog sich jeder weiteren Forschung, denn der Zufall ist ebenso wenig erforschbar wie die Emergenz.

Bereits vor 100 Jahren hat Uexküll darauf hingewiesen, dass „ein neues Gerüst für die Biologie notwendig“ würde, denn „das bisherige Gerüst, das man der Chemie und der Physik entliehen hatte, genügte nicht mehr.“ /1/ Vor rund 50 Jahren haben Bertalanffy mit dem Begriff des „Fließgleichgewichts“ und später Prigogine mit dem Begriff der „dissipativen Struktur“ das Gerüst der Physik entscheidend weiter entwickelt, so dass nun biologische Probleme lösbar wurden, die bis dahin unlösbar waren.

Gegenwärtig steht das Paradigmata des Darwinismus auf dem Prüfstand. Damit sind nicht die unqualifizierten Angriffe des Kreationismus und des ID gemeint, die keiner ernsthaften Erörterung würdig sind. Gemeint sind beispielsweise Biologen wie Morris /1/, Kirschner /2/ oder Bauer /3/. Aber auch Physiker wie zum anderen Physiker wie Greene /4/, Laughlin /5/ oder Genz /6/ im Rahmen der Diskussion um die „Weltformel. Die Überlegungen der Physiker kann kurz gesagt vielleicht so zusammengefasst werden: Wenn es eine Weltformel gibt, dann sind alle Ereignisse im Weltall berechenbar. Sie sind also nicht zufällig, sondern unvermeidlich. Das gilt auch für die Evolution der Lebewesen und des Menschen. Auch er ist nicht zufällig, sondern unvermeidlich.

Die biologische Kritik des darwinistischen Paradigmas setzt auch nicht an noch ungelösten Detailproblemen an, die auch innerhalb des Paradigmas gelöst werden können, sondern am Paradigma selbst. Bei der empirischen Forschung werden immer auch Details gefunden, die mit dem herrschenden Paradigma zumindest nicht ohne „Anpassung“ verträglich sind. Gewöhnlich werden solche Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung als Anomalien oder Ausnahmen verbucht (was in der Biologie besonders nahe liegt). Im Laufe der Zeit wächst aber die Anzahl solcher Ausnahmen und Anomalien, so dass der Versuch unternommen werden muss, das Paradigma weiter zu entwickeln und den neuen Tatsachen anzupassen.

Passend zum Darwinjahr 2009 sind einige Bücher erschienen, welche das Dilemma des „Mainstreamdarwinismus“ artikulieren. Schon die Titel zeigen dies an: „Jenseits des Zufalls (Morris), „Die Lösung von Darwins Dilemma“ (Kirschner) und „Das kooperative Gen * Abschied vom Darwinismus“ (Bauer). Die moderne „synthetische Evolutionstheorie“ beruht in ihren beiden Grundbegriffen auf der Kategorie „Zufall“. Zufällige Mutationen bringen veränderte Individuen hervor, die in einer sich zufällig ändernden Umwelt der Auslese unterliegen. Da der Zufall nichts erklärt, muss man nun glauben, dass diese zufälligen Faktoren die Evolution von einfachsten Einzellern zum intelligenten Menschen „verursachen“, die nahezu die gesamte Erde besiedeln.

Morris ist Paläontologe und zeigt an paläontologischem Material die Konvergenz der Evolution, die beim besten Willen nicht mit einer auf Zufällen beruhenden Evolutionstheorie vereinbar ist. Kirschner und Bauer zeigen dies an Ergebnissen der Molekularbiologie und Genetik. Hier werden neue gedankliche Rahmen vorgeschlagen, die geeignet sind, die vorliegenden empirischen Daten zu einem Denksystem zu ordnen, ohne sich schließlich doch auf den Zufall als letzte „Erklärung“ zurückzuziehen. Deshalb ermöglichen sie auch andere wissenschaftliche Antworten auf Fragen nach dem Ursprung der Menschheit, seiner Stellung in der Welt u.ä., welche die Erkenntnisbedürfnisse der Menschen in einer Weise befriedigen, die sie nicht mehr in die Fänge religiösen Denkens oder esoterischer Praktiken treibt. Nicht religiöse Eiferer und Dummheit sind dafür verantwortlich, sondern die Unfähigkeit der Wissenschaft, die wirklichen Fragen der Menschen zu beantworten.

Am deutlichsten zeigt sich das in der Diskussion um den freien Willen, von dem die kausalistische Neurophysiologie meint experimentell bewiesen zu haben, es gäbe ihn gar nicht. In der Neurophysiologie sind mir allerdings keine Arbeiten bekannt, die auch Kritik an ihren grundlegenden Paradigmen äußern. Wenn Kritik kommt, dann von „außerhalb“ aus der Psychologie, die allerdings nur bestreitet, dass die Neurophysiologie die Probleme von Psyche und Seele lösen könnte und es dabei belässt. Auch in diesem Bereich lassen die Wissenschaften die Menschen mit ihren Problemen allein und mokieren sich über die Unwissenheit der Menschen, in die wir sie erst versetzt haben. Die Wissenschaft kann offensichtlich ohne Seele existieren, die meisten Menschen offensichtlich nicht.

Man muss sich nur einmal die die Menschenmassen vergegenwärtigen, täglich als Pilger der verschiedensten Religionen ihrer Seele wegen unterwegs sind, um ihrem Glauben zu folgen Erkennen wir die Brisanz, die darin liegt, dass die Wissenschaften in ihrer Befangenheit des kausalistischen paradigmatisch verharren und den Menschen, die sie bezahlen, Antworten auf ihre berechtigten Fragen verweigern?

Es hilft auch nicht, die unbestreitbare Unvereinbarkeit von Wissenschaft und Religion zu beschwören. Es gilt alle Fragen der Menschen zu beantworten und nicht nur die, die in das aktuelle Paradigma Wissenschaft und die anderen als „erfunden“ abzutun. Neue Paradigmata tun not!

 

 

/1/ Morris, Simon Conway (2003): Life’s Solution / Inevitable Humans in a Lonely Universe, Cambridge University Press, New York und Melbourne Deutsch: Morris, Simon Conway (2008): Jenseits des Zufalls * Wir Menschen im einsamen Universum, University Press, Cambridge
/2/ Kirschner, Marc. W.; Gerhart, John C. (2007): Die Lösung von Darwins Dilemma
/3/ Bauer, Joachim (2008): Das kooperative Gen, Hoffmann u.Campe, Hamburg
/4/ Greene, Graham (2006): Das elegante Universum, Wilhelm Goldmann Verlag, MĂĽnchen
/5/ Laughlin, Robert B. (2007): Abschied von der Weltformel, Piper & Co. Verlag, MĂĽnchen, ZĂĽrich
/6/ Genz, Henning (2006): War es ein Gott?, Carl Hanser Verlag, MĂĽnchen Wien,

 

 

 

Kategorie: Allgemein, Erkenntnis, Evolution, Freier Wille, Kausalismus

8 Reaktionen zu “Schuld sind immer die Anderen”

  1. JLT

    “Die westliche wissenschaftliche Weltanschauung ist bekanntlich vom Paradigma der Kausalität geprägt, demzufolge jedes Ereignis eine äuĂźere Ursache hat, auf die es zurĂĽckzufĂĽhren ist. Akausale Ereignisse, Ereignisse ohne Ursache, sind in diesem Denkschema nicht zugelassen. Deshalb kommen Entitäten wie eine Seele oder Ideen in diesem Gedankensystem nicht vor. Ihre Existenz wird verneint und nicht selten verächtlich als „unwissenschaftlich“ abgetan. Naturwissenschaftler werden nicht Seelsorger – schade!

    So aber werden die Fragen der Menschen nicht beantwortet, das BedĂĽrfnis nach einer wissenschaftlichen Antwort bleibt unbefriedigt. Damit finden sich die Menschen aber ebenso wenig ab wie mit anderen unbefriedigten BedĂĽrfnissen, sie suchen nach Befriedigung ihrer BedĂĽrfnisse. Menschen wollen eine Seele haben und sich nicht als seelenloses Fleisch sehen, sie wollen nicht das Resultat eines blinden Zufalls sein sondern einen Sinn in ihrer Existenz sehen. Und wenn sie Antworten auf ihre Fragen nicht in der Wissenschaft finden, suchen sie diese eben anderswo.”

    Meiner Meinung nach ist diese Darstellung so nicht richtig.

    Es ist richtig, dass in der Wissenschaft kausale Zusammenhänge gesucht werden, aber dass ist nicht der Grund, warum Konstrukte wie eine “Seele” nicht in naturwissenschaftlichen Zusammenhängen vorkommen. Wissenschaft kann nur materielle, also physikalisch messbare Ursachen feststellen. Manche BefĂĽrworter einer Seele behaupten, dass diese immateriell und unabhängig von Materie existiert – also per definitionem nicht wissenschaftlich beschreibbar und damit unwissenschaftlich (im nicht abwertenden Sinne – vielleicht besser “auĂźerwissenschaftlich”) ist. Solche Behauptungen (”Die Seele existiert nach dem Tod weiter” o. ä.) sind nicht ĂĽberprĂĽfbar, Wissenschaft kann ihnen nur neutral gegenĂĽber stehen.
    Problematisch wird es, wenn jemand a priori annimmt, es gäbe eine Seele, und daraus Handlungsanweisungen ableitet. Als Beispiel fallen mir da Abtreibungsgegner ein, die als Argument gegen Abtreibung anführen, der Embryo habe vom Zeitpunkt der Befruchtung an eine Seele und Abtreibungen seien deswegen Mord und damit nicht zulässig. Diese Argumentation ist unwissenschaftlich, weil sie eine weder beleg- noch widerlegbare Behauptung als Ausgangspunkt nimmt.

    Was den Vorwurf angeht, dass Wissenschaft nicht zum Seelsorger wird und einige Fragen nicht beantworten kann – beschweren Sie sich auch bei ihrem Gemüsehändler, dass er kein Benzin verkauft?

    Viele Menschen haben Probleme mit der Vorstellung, dass es in und von der Wissenschaft keine absoluten Antworten gibt. Wissenschaft ist von ihrer Struktur her immer vorläufig, neue Erkenntnisse können das bestehende “Wissen” verändern oder Teile davon obsolet machen – das ist das Prinzip von Wissenschaft. Das verunsichert viele, die gerne absolute Antworten haben wollen. Ich stimme mit Ihnen ĂĽberein, dass sich Menschen deshalb woandershin wenden, zu Menschen, die behaupten, diese absolute Antworten zu haben. Aber von meinem Standpunkt aus ist es genau das: Sie *behaupten*, absolute Antworten zu haben, sie könnten genauso gut falsch liegen.

    Wenn Menschen eine Seele haben wollen und von der Wissenschaft den Beweis haben wollen, dass sie existiert – dann ist es nicht Fehler der Wissenschaft, dass sie diese nicht liefert. Wissenschaftlich ist ihre Existenz (momentan) nicht nachweisbar; alle Behauptungen zum Gegenteil wären eine Falschaussage. Wissenschaftlich geht man von einer sogenannten “Nullhypothese” aus, d. h. solange man keine Beweise fĂĽr das Gegenteil findet, gibt es keine [Seele, Einhörner, Loch Ness-Monster, Aura, UFOs …]. Als Anmerkung: Ich habe die anderen Beispiele nicht deswegen eingefĂĽgt, um das Konzept einer Seele lächerlich zu machen, sondern um aufzuzeigen, welche Auswirkungen es hätte, wĂĽrde man dieses Prinzip umdrehen.

    Dann finde ich, dass sie hier zwei Dichotomien verwenden, die meiner Meinung nach nicht so existieren: Menschen mit Seele versus seelenloses Fleisch und zufallsbedingte (sinnlose) Existenz versus Existenz mit Sinn.

    Zur ersten Dichotomie: Mensch mit Seele versus seelenloses Fleisch.
    Zunächst mal verwechselt das meiner Meinung nach Sein mit Sollen. Wenn Ihnen jemand ohne den Schatten eines Zweifels nachwiese, dass Menschen keine Seele haben (was, wie oben ausgeführt, wissenschaftlich nicht möglich ist) – würden Sie sich anders verhalten?
    WĂĽrden sich die Menschen Ihnen gegenĂĽber oder allgemein anders verhalten? Tatsächlich wĂĽrde sich meiner Meinung nach dadurch nichts daran ändern, wie sich Menschen gegenĂĽber anderen Menschen verhalten – oder wollen Sie wirklich behaupten, dass z. B. ich, die ich nicht an die Existenz einer Seele als immaterielle und unabhängig von Materie existierende Entität glaube, andere Menschen als “Fleisch” sehe oder mich ihnen gegenĂĽber so verhalte? Ich denke, im GroĂźen und Ganzen haben alle Menschen die gleiche Empfindung, ich persönlich sehe es als Produkt meines Gehirns an, sie halten es fĂĽr Ihre Seele – was von beiden es auch ist, an der Empfindung wĂĽrde sich nichts ändern, wie auch immer ein letztendliches Urteil aussähe.

    Zur zweiten Dichotomie: zufallsbedingte (sinnlose) Existenz versus Existenz mit Sinn.
    Das habe ich zugegebenermaßen noch nie verstanden – welchen Sinn gäbe es meinem Leben, wenn ich wüsste, ich wäre erschaffen worden? Ich baue einen Rasenmäher, um damit Rasen zu mähen. Ich baue ein Auto, um damit in der Gegend herumzufahren. Ich baue Menschen, um was? Mich anzubeten? Mir meine Langeweile zu vertreiben? Was wäre der Sinn, den meine persönliche Existenz dadurch bekäme? Ich meine das als völlig ernsthafte Frage, mir ist einfach nicht klar, welchen besonderen Lebenszweck es mir gäbe, wenn ich wüsste, dass Menschen irgendwann einmal erschaffen worden sind.
    Ich bin davon überzeugt, dass Menschen ein (Zufalls-) Produkt der Evolution sind und ich empfinde mein Leben keinesfalls als sinnlos. Auf mich persönlich trifft das nicht zu, ich habe keine Kinder, aber viele Menschen geben als Sinn ihres Lebens ihre Kinder an – die hätten sie aber unabhängig davon, ob sie nun die Nachfahren von Adam und Eva sind oder gemeinsame Vorfahren mit Affen haben (um es mal überspitzt zu formulieren). Ich persönlich forsche in einem Institut an adulten Stammzellen, die möglicherweise einmal eingesetzt werden können, um verschiedene Verschleißerscheinungen oder krankheitsbedingte degenerative Prozesse zu revertieren oder zu heilen. Die Vorstellung, dass ich daran beteiligt bin, als wie kleines Rädchen auch immer, gibt meinem Leben meiner Meinung nach einen Sinn. Auch das ist völlig unabhängig davon, wie Menschen entstanden sind. Auch da kann ich nur sagen: Am status quo ändert es in den meisten Fällen überhaupt nichts, ob wir nun erschaffen wurden oder nicht – entweder wir sehen einen Sinn in unserem Leben, oder eben nicht (wenn man nicht gerade den Sinn in seinem Leben darin sieht, anderen zu erzählen, dass wir angeblich erschaffen wurden).

    Um noch kurz auf die ĂĽbergeordnete Aussage einzugehen, Schuld sind immer die Anderen:

    Es zeigt sich meiner Meinung nach immer wieder, dass viele Menschen selbst in den Fragen, die Wissenschaft beantworten kann, die Antworten nicht akzeptieren, wenn sie ihnen nicht gefallen (aus welchen GrĂĽnden auch immer). Beispiele gibt es zur GenĂĽge, um nur mal zwei zu nennen, weil sie Themen berĂĽhren, die mich auch sehr interessiert: Es gibt mittlerweile ĂĽber 30 Studien, die eine Verbindung zwischen Impfungen und Autismus bei Kindern verneinen. Trotzdem gibt es Menschen, die dies weiter behaupten.
    Genauso ist es ĂĽber jeglichen vernĂĽnftigen Zweifel hinaus nachgewiesen, dass eine Infektion mit dem HI-Virus zu AIDS fĂĽhrt und trotzdem gibt es Menschen, die das bestreiten.
    Man kann Wissenschaft nicht so umbauen, dass sie immer die Antworten gibt, die allen Menschen gefallen. Es gibt genug Menschen, die keinerlei Probleme mit der Vorstellung haben, keine Seele zu haben (obwohl, wie gesagt, Wissenschaft da keine Aussage machen kann) und die auch keinerlei Probleme damit haben, das Produkt von Evolution zu sein und nicht das Ergebnis einer Schöpfung. Wenn selbst in den Bereichen, wo Wissenschaft eine nahezu definitive Aussage machen kann, Menschen diese Ergebnisse nicht akzeptieren, dann zeigt das doch, dass das Problem nicht bei der Wissenschaft zu suchen ist, sondern bei den Menschen, sich die Welt um jeden Preis so machen möchten, wie sie sie sich vorstellen.

    Mit freundlichen GrĂĽĂźen,
    JLT

  2. Georg Litsche

    Hallo JLT,
    vielen Dank für den umfangreichen Kommentar. Das weitaus Meiste sehe ich ebenso, nur ging es mir nicht darum. Mir geht es darum, dass – um das Bild aufzugreifen – der Gemüsehändler seinen Kunden zugestehen muss, dass sie auch Benzin brauchen. Da er das nicht anbietet, muss er akzeptieren, dass diese zu Tankstelle gehen und sollte Tankstellen nicht in eine Kategorie wie „Das Böse unter der Sonne“ einordnen (oder habe ich da etwas falsch verstanden?). Gemüse ist nicht etwas Besseres als Benzin, es ist etwas anderes.
    Wenn Tankstellenbesitzer die Bedürfnisse von Menschen ausnutzen um sie in die Irre zu führen, ist das böse, aber keine Eigenschaft des Benzins. Auch Gemüsehändler tun das gelegentlich, wenn ich beispielsweise an manche Gutachten über die Unschädlichkeit des Rauchens denke. Ich meine, Wissenschaftler sollten respektvoller und ernsthafter mit Religion umgehen.
    Zum anderen meine ich, dass Gemüsehändler sich nicht auf das „Standardgemüse“ beschränken sondern über eine Erweiterung ihres Angebots nachdenken sollten und Produkte, („Gemüsederivate“) entwickeln sollten, die auch Bedürfnisse befriedigen, die bisher durch Benzin befriedigt werden – und dies vielleicht besser als Benzin.
    Die Evolution muss nicht als zufälliger Prozess gedacht werden und die Alternative ist nicht notwendig ein Schöpfer, auch wissenschaftliche Alternativen sind denkbar, wie in der im Beitrag angeführten Literatur deutlich wird. Die Gemüsehändler sollten das Neue in Ihr Sortiment aufnehmen – und nicht nur im Regal ganz hinten!.
    Mit freundlichen GrĂĽĂźen
    G.L.

  3. JLT

    Hallo Georg,

    vielen Dank fĂĽr Ihre Antwort, ich werde vielleicht noch etwas ausfĂĽhrlicher darauf antworten, wenn ich die Zeit finde.
    Nur ganz auf die Schnelle wollte auf die Vermutung reagieren, mein Blogtitel wĂĽrde sich auf Religion o. ä. beziehen. Keineswegs! Das war eine augenzwinkernde Referenz darauf, wie Wissenschaftler, die die Evolutionstheorie unterstĂĽtzen, von christlich-fundamentalistischer Seite gesehen werden. Als ich meinen Blog ins Leben gerufen habe, war ich in einem christlichen Forum aktiv, wo ich regelmäßig als LĂĽgner und Massenmörder bezeichnet wurde, weil ich die Evolutionstheorie unterstĂĽtze und auch sonst in vielen Bereichen eine abweichende Meinung hatte (der Hauptbetreiber des Forums leugnete auch den Zusammenhang zwischen einer HIV-Infektion und AIDS und behauptete statt dessen, AIDS wĂĽrde durch gentechnisch veränderte Lebensmittel hervorgerufen - daher die Bezeichnung als Mörder, da man als Biologe anscheinend automatisch gentechnisch veränderte Lebensmittel herstellt…).

    Mit freundlichen GrĂĽĂźen,
    JLT

  4. Bertram Köhler

    Schuld sind immer die Anderen
    Wenn Sie schreiben: „Ich meine, Wissenschaftler sollten respektvoller und ernsthafter mit Religion umgehen.“, so kann ich das nur begrüßen, falls Sie dabei an solche Veröffentlichungen denken, wie z. B. „Der Gotteswahn“ von Richard Dawkins. Aber dieses Buch ist weder typisch für „die Wissenschaften“ noch kann es als Ursache für esoterische Tendenzen in Betracht gezogen werden.
    Aber auch das Kausalitätsparadigma halte ich nicht für das entscheidende Hindernis, welches es der Wissenschaft nicht ermöglichen würde, „die Erkenntnisbedürfnisse der Menschen in einer Weise (zu) befriedigen, die sie nicht mehr in die Fänge religiösen Denkens oder esoterischer Praktiken treibt. Wenn die Wissenschaft unfähig ist, „die wirklichen Fragen der Menschen zu beantworten“, so wird dies wohl nicht am Kausalitätsparadigma liegen, sondern an den gesellschaftlichen Verhältnissen, die das nicht zulassen. Im Gegenteil: Nur das Kausalitätsparadigma ermöglicht es, nach den Ursachen zu fragen, warum 70% der Befragten an eine Seele glauben, obwohl die Wissenschaft keine findet. Und darauf kann die Evolutionstheorie eine Antwort geben, obwohl diese in dem o.a. Buch von Dawkins nicht zu finden ist. Sicher kann die Wissenschaft die religiösen Vorstellungen nicht beweisen oder widerlegen, aber sie kann begründen, warum es sie gibt.
    Das Kausalitätsparadigma kann man nicht abschaffen, vielleicht muss man es besser interpretieren.
    Mit freundlichen GrĂĽĂźen
    Bertram Köhler

  5. Georg Litsche

    Hallo Herr Köhler,
    es geht mir nicht darum, das Kausalitätsparadigma abzuschaffen, sondern darum, seine Begrenztheit zu erkennen und es so weiter zu entwickeln, dass auch Kategorien wie “Seele” einer naturwissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich werden.
    mfg
    G. Litsche

  6. Bertram Köhler

    Hallo Herr Litsche,
    so meine ich das auch, wenn ich anheimstelle, das Kausalitätsparadigma anders zu interpretieren. Kausalität ist ja ein abstrakter, “theoretischer” Begriff, und Sie haben in Ihrem erkenntnistheoretischen Propädeutikum ja sehr anschaulich dargestellt, wie solche Begriffe entstehen. Die “Begrenztheit des Kausalitätsparadigmas” ist auch ein solch theoretischer Begriff. Sie ist grundsätzlich auf 2 unterschiedliche Weisen ĂĽberwindbar:
    1. Man definiert Grenzen, außerhalb deren das Kausalitätsparadigma nicht gilt, sondern dort gilt Freier Wille oder Zufall, und nicht Kausalität.
    2. Man akzeptiert, dass in bestimmten Bereichen der Freie Wille oder der Zufall als ausreichende Ursache für eine Wirkung anzusehen ist. Dann muss man aber definieren, was Freier Wille und was Zufall ist. Das Kausalitätsparadigma gilt dann uneingeschränkt.

    Oder sehen Sie noch eine Dritte Möglichkeit?
    Ich bevorzuge die Variante 2.

    Mit freundlichen GrĂĽĂźen
    Bertram Köhler

  7. Georg Litsche

    Hallo Herr Köhler,
    Variante 2 ist der Versuch, das Kausalitätsparadigma durch ein Hintertürchen in den freien Willen einzuschmuggeln. Der Zufall ist keine Ursache, sonst wäre er kein Zufall. Der Wille determiniert die Tätigkeit, aber nicht jede Determination ist eine Ursache.
    Fragen Sie mich bitte nicht, wie der freie Wille die Tätigkeit determiniert und wie er mit Ursachen zusammenhängt! Wenn ich´s wissen werde, erfahren Sie es als Erster.
    Im Augenblick geht es mir noch darum, das Problem so genau zu formulieren, dass ich eine Antwort ĂĽberhaupt erst erkenne. Ihre scheinen mir noch keine zu sein.
    Mit freundlichem GruĂź
    G.Litsche

  8. Bertram Köhler

    Hallo Herr Litsche,
    wir hatten schon mal, denke ich, Ăśbereinstimmung erzielt, dass “Zufall” ein theoretischer Begriff ist, der immer dann zum Tragen kommt, wenn unser Wissen nicht ausreicht, die gegenseitige eventuelle Abhängigkeit zweier Ereignisketten anders zu beschreiben. Wie das Subjekt, so kann auch der Zufall nicht empirisch untersucht werden, genau wegen der von Ihnen entwickelten Argumentation. Im Sinne der Popperschen Falsifikationsthese können und mĂĽssen wir ein immer wieder als zufällig erkanntes Ereignis (z.B. radioaktiver Zerfall) solange als zufällig bezeichnen, als fĂĽr genau diese Klasse von Ereignissen keine andere Ursache gefunden werden kann. In einem solchen Falle wird dann eine stochastische Gesetzmäßigkeit unterstellt, die m. E. auch als Ursache im weiteren Sinne anzusehen ist.
    Mit freundlichen GrĂĽĂźen
    Bertram Köhler


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