Fliegen mit eigenem Willen

Neulich beendete Frieda meinen Mittagsschlaf. Frieda ist unsere Stubenfliege, die eigentlich jetzt ihre Winterruhe halten müsste. „Warum“, so fragte ich mich, „warum nur musste Frieda ausgerechnet jetzt ihre Winterruhe unterbrechen und mich in meinem wohlverdienten Schlaf stören?“ Indem ich über diese Frage nachsann, stellte ich fest, dass mich die Gewohnheiten meines alltäglichen Denkens wieder in die spanischen Stiefel des Kausalitätsparadigmas gelockt hatten. Für alles musste es ja eine erkennbare Ursache geben. Dass Frieda vielleicht einfach Lust zu einem Ausflug hatte, schien mir keine wirkliche Erklärung zu sein.
Da fiel mir eine Nachricht ein, die ich vor einiger Zeit in „Spektrumdirekt“ gelesen hatte. Björn Brembs u.a. wollten wissen, wie Taufliegen (Drosophila melanogaster) ihren Flug steuern, wenn ihre Umwelt ihnen keine Reize zukommen lässt. Schon die Fragestellung ist ein verhaltensbiologisches Sakrileg, eine Reaktion ohne Reiz, wie soll das gehen?
Die dunkelbäuchigen Tauliebhaber wussten offenbar, was sie „wollten“. Sie flogen nicht einfach stur geradeaus und taumelten auch nicht dem Zufälligkeitsparadigma folgend hin und her. Nein, sie gingen vor wie sinnvoll suchende. Ein Suchender überwindet auf geradem Wege Distanzen über offenes Gelände, um dann an viel versprechenden Orten unter schnellen Richtungswechseln die dort möglichen Verstecke zu finden. Lange und kurze Strecken wechseln sich als regelmäßig ab. Genau diese Muster erkannte Brembs auch im Flug der Insekten. Taufliegen müssen also in der Lage sein, auch ohne äußere Reize spontane „Entscheidungen“ zu treffen. (Volltext)
Ob man diese Fähigkeit „freier Wille“ nennen mag, hängt davon ab, wie man den Terminus „freier Wille“ definiert und ist letztlich eine Frage der Konvention. Offensichtlich ist aber, dass man dieses Verhalten nicht auf das Reiz- Reaktion- Modell abbilden kann. Es ist mit diesem unverträglich. Zeigt das Experiment nur eine in diesem Paradigma noch unerklärbare Anomalie oder gehört es schon zur Vorhut eines umfassenderen Paradigmenwechsels?
Das Reiz – Reaktion- Modell ist die verhaltensbiologische Verkleidung des Kausalitätsparadigmas, das in seiner „reinen“ Form „Behaviorismus“ genannt wird. Dieses Modell ist logisch widerspruchsfrei mit dem Kausalitätsparadigma verträglich, weshalb es auch nahezu allen verhaltensbiologischen Schulen zugrunde liegt, auch wenn sie sich vom Behaviorismus abzugrenzen versuchen. Allein durch die Benutzung der Termini „Reiz“ und „Reaktion“ hat man sich die spanischen Stiefel des Behaviorismus angezogen, auch wenn man die eine oder andere Druckstelle vermieden hat.
Ich jedenfalls gestehe nun meiner Frieda ihren eigenen Willen zu und ĂĽberlege, wie ich nun mit ihr umgehe.

Kategorie: Allgemein, Freier Wille, Subjekte

7 Reaktionen zu “Fliegen mit eigenem Willen”

  1. Bertram Köhler

    Zufall und eigener Wille sind beide Kinder des Kausalitätsparadigmas und doch stehen sie im (dialektischen?)Widerspruch zu diesem. Man kann das nur verstehen, wenn man die im Beitrag http://www.subjekte.de/Propaedeutikum/Propaedeutikum_Einfuehrung.htm
    dargelegten Gedankengänge über den Erkentnisprozess nachvollzieht. Das Subjekt kann nur einen eigenen Willen haben, wenn das Kausalitätsprinzip an der Grenze zwischen Subjekt und Umwelt durchbrochen ist. Ein Beobachter von außen kann die letzte Ursache einer Willensentscheidung nicht erkennen. Nur das Subjekt weiss, warum es etwas will, oder nicht einmal das.
    Die gleiche Situation liegt vor, wenn sich ein Zufall ereignet. Ein Beobachter kann die letzte Ursache des Ereignisses nicht finden. Die Rückverfolgung der Kausalkette ist irgandwo nicht mehr weiter möglich. Zufall und eigener Wille markieren die Grenzen der individuellen und gesellschaftlichen Erkentnisfähigkeit, seien sie nun relariv oder absolut. Um mit diesem Problem rational umgehen zu können, wurden die Begriffe Zufall und eigener Wille erfunden. Beide Begriffe sind dem Kausalprinzip komplementär.

  2. Georg Litsche

    Auch die Kategorie „Subjekt“ muss evolutionistisch, als sich entwickelnd betrachtet werden. Auch Bakterien sind schon entwickelte Subjekte. Ehe aber der Wille zum gewussten Willen geworden ist, sind Mrd. Jahre Evolution vergangen und der Wille hat eine Vielzahl weiterer Bestimmungen entwickelt, die rekonstruiert werden wollen, ehe der gewusste Wille verstehbar wird.
    Deshalb sind auch die Beziehungen zwischen Zufall, Wille und Kausalität nicht ahistorisch diskutierbar. Von welcher Entwicklungsstufe soll hier die Rede sein?

  3. Bertram Köhler

    Bleiben wir bei der Fliege. Sie hat ihr Verhalten evolutionär “gelernt”. Sonst wäre sie tot, oder vielmehr gar nicht erst entstanden. Wir können eine Kausalkette erforschen. Zur letzten Ursache können wir nicht vordingen. Die letzte Ursache ist eine von vielen Möglichkeiten, die notwendig irgendwann zufällig eintrat und ihr das Leben rettete. Seit dem will sie sich so verhalten.

  4. Georg Litsche

    Die Frage ist doch, wie die Entstehung des freien Willen auf kausalem Wege erklärt werden kann, ohne die Gehhilfe “Zufall” in Anspruch zu nehmen.

  5. Bertram Köhler

    Hier hilft nur die dreiwertige Logik. Man mĂĽsste auf das Axiom des ausgeschlossenen Dritten verzichten: Eine Aussage ist
    -entweder wahr
    -oder falsch
    oder nicht entscheidbar.
    Es ist nicht entscheidbar, ob die Entstehung des freien Willens auf kausalem Wege erklärt werden kann, ohne den Zufall in Anspruch zu nehmen.

  6. Georg Litsche

    Ja wenn ich denn wĂĽsste, was Zufall anderes ist als Nichtwissen, und das ist mir keine Hilfe.

  7. Subjekt und Instinkt II - Wille versus Kausalität

    […] die nicht mehr kausal, „objektiv“, sondern akausal, „subjektiv“ determiniert ist. Die Determination der subjektiven Aktionen durch die Subjekte, das ist der Forschungsgegenstand einer subjektwissenschaftlichen […]


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