Antitheorie Darwinismus

Die harscheste Kritik am Darwinismus, die mir in letzter Zeit begegnete, ist die von Robert B. Laughlin, NobelpreistrĂ€ger 1998 fĂŒr Physik in seinem Buch „Abschied von der Weltformel“.

In diesem Buch geht es um den Streit um den Reduktionismus, jene wissenschaftliche Grundhaltung, nach der die Gesetze der verschiedenen Bereiche der Welt letztlich auf  einfache Gesetze der Physik zurĂŒckgefĂŒhrt und aus diesen abgeleitet werden können. War einst (neben der Religion) der Vitalismus die bedeutendste erkenntnistheoretische Alternative des Reduktionismus, so nimmt heute die Emergenz die Stelle der „Vis vitalis“ ein.

Die gemeinsame Grundlage dieses Streits ist die Vorstellung von einer hierarchischen Organisation der Natur in Schichten oder Ebenen, die klar unterscheidbare Bereiche bilden, in denen spezifische Gesetzen gelten, die fĂŒr genau diesen Bereich zutreffen. Die Frage ist nun, ob zwischen den Gesetzen dieser unterschiedlichen Bereiche oder Schichten Beziehungen der Art gelten, dass die Gesetze des einen  Bereichs aus denen eines anderen (des „grundlegenden“) abgeleitet werden können. Der Reduktionismus beantwortet diese Frage mit einem klaren „Ja“, der Emergentismus mit einem ebenso klaren „Nein“.

Es liegt auf der Hand, dass der Streit entschieden werden könnte, indem die „Weltformel“ gefunden wird und eine gĂŒltige (was immer das sein mag) „Theory of Everything“ (TOE) formuliert ist. Bis dahin kann jeder an seine Antwort nur glauben und die andere als „ideologisch“ abtun. Laughlin meint daher, „…dass ein großer Teil des heutigen biologischen Wissens ideologischer Natur ist. Ein Leitsymptom fĂŒr ideologisches Denken ist die ErklĂ€rung, die nichts impliziert und nicht getestet werden kann. Ich be­zeichne solche logischen Sackgassen als Antitheorien, weil sie sich genau gegenteilig auswirken wie richtige Theorien: Sie lassen das Denken zum Stillstand kommen, statt es anzure­gen. Beispielsweise fungiert die von Darwin ursprĂŒnglich als großartige Theorie entworfene Lehre von der Evolution durch natĂŒrliche Selektion in jĂŒngster Zeit eher als Antitheorie. Man zieht sie heran, um peinliche experimentelle MĂ€ngel zu ver­bergen und Befunde zu legitimieren, die bestenfalls fragwĂŒr­dig und schlimmstenfalls »noch nicht einmal falsch« sind. Ihr Protein trotzt den Massenwirkungsgesetzen? Das ist das Werk der Evolution! Ihr komplizierter Mischmasch aus chemischen Reaktionen verwandelt sich in ein HĂŒhnchen? Evolution! Das menschliche Gehirn arbeitet nach logischen Prinzipien, die kein Computer nachahmen kann? Ursache ist die Evolution!“ [1] Es geht ihm also nicht um den Darwinismus an sich, was er ist, sondern darum, welche Gestalt dieser heute vielfach angenommen hat, als was er heute „fungiert“. In dieser Form werden mit dem Darwinismus oft ErklĂ€rungen vorgetĂ€uscht, wo er keine gibt. Eine umfassende Debatte um die ErklĂ€rungsdefizite der Evolutionstheorie findet in der Biologie nur am Rande statt.[2] Umso lebhafter bemĂ€chtigen sich Kreationismus und ID dieses Umstands.

Seit Darwin haben die Naturwissenschaften umfangreiche Fortschritte gemacht, durch die wir die Grundlagen des Darwinismus, Mutation und Auslese weitaus tiefer verstehen als Darwin und seine Zeitgenossen. Dadurch wurde aber auch immer deutlicher, worin die ErklĂ€rungsdefizite der darwinistischen Evolutionstheorie bestehen. Die „Inputs“ der beiden grundlegenden Kategorien dieser Theorie, Mutation und Auslese sind nicht GegenstĂ€nde der Evolutionstheorie, sondern anderer Theorien. Deshalb sind sie in der biologischen Theorie, als biologische Prozesse letztlich unverstanden und können daher die Evolution nicht erklĂ€ren. Diese Tatsache verschleiert die Biologie, indem sie den Zufall als theoretische Kategorie eingefĂŒhrt haben. Dazu habe ich hier schon einmal gepostet.

 

Über den Zufall als wissenschaftliche Kategorie schreibt Gerhard Vollmer im Online-Lexikon des Spektrumverlages:

„FĂŒr den wissenschaftlichen Sprachgebrauch muß der Zufallsbegriff prĂ€zisiert werden. Dabei sind verschiedene Bedeutungen zu unterscheiden…:- Ein Ereignis ist objektiv zufĂ€llig, wenn es keine Ursache hat.- Ein Ereignis ist subjektiv zufĂ€llig, wenn wir dafĂŒr keine ErklĂ€rung haben und auch keine erwarten.

Beiden Begriffen gemeinsam ist die Tatsache, daß das Geschehen, soweit wir wissen, auch anders oder gar nicht ablaufen könnte, daß es nicht determiniert, nicht „naturnotwendig“ war. … WĂ€hrend aber der objektive Zufallsbegriff die Struktur der Welt beschreibt, bezieht sich der subjektive auf unser Wissen. Zwischen beiden besteht natĂŒrlich ein Zusammenhang: FĂŒr ein ursachloses Ereignis gibt es auch keine ErklĂ€rung.

[…]

ZufĂ€llig im objektiven Sinne ist aber auch das Zusammentreffen vorher unverbundener Kausalketten. … der Hammer des Dachdeckers fĂ€llt (ohne böse Absicht) dem vorĂŒbereilenden Arzt auf den Kopf; ein Gammaquant vom Fixstern Sirius löst in einem Chromosom eine Mutation aus. Obwohl jede einzelne Kausalkette in sich geschlossen und vielleicht vollstĂ€ndig erklĂ€rbar ist, bleibt doch das Zusammentreffen dieser lĂŒckenlosen Kausalketten ohne direkte Ursache, also auch ohne ErklĂ€rung; es ist zufĂ€llig.“ [3]

Diese Form des Zufalls nennt Vollmer „relativer Zufall“

Die ZufÀlligkeit der Evolutionstheorie ist von dieser Art. Die bekannten Ursachen von Mutationen und von VerÀnderungen der Umwelt, welche die Richtung der Selektion bestimmen, werden in eigenstÀndigen, nichtbiologischen theoretischen Systemen beschrieben. Ihre Ereignisse sind in Bezug auf die Evolution zufÀllig.

Die Evolutionstheorie muss sich vielmehr der folgenden Frage stellen:

KÀme es auch ohne diese zufÀlligen Einwirkungen der Umwelt zur Evolution des Lebens?

Wie wĂ€re sie in diesem Fall verlaufen? – HĂ€tte sie z.B. auch zu intelligenten gesellschaftlichen Wesen gefĂŒhrt? Erst mit der Beantwortung dieser Fragen wĂ€re die Evolutionstheorie zu einer Theorie geworden, welche die Evolution auch erklĂ€rt.

FĂŒr mich ist die reduktionistische Antwort auch die spannendere. Vom Standpunkt der Emergenztheorie aus könnte ich den Reduktionisten nur beim Forschen zusehen und hoffen, dass sie erfolglos bleiben, denn nur so könnte ich im Recht bleiben – unbefriedigend!

  

[1] Laughlin, Robert B. (2007): Abschied von der Weltformel, Piper & Co. Verlag, MĂŒnchen, ZĂŒrich, S. 248f.

[2] vgl. z.B. Gutmann, Wolfgang Friedrich (1995): Die Evolution hydraulischer Strukturen * Organismische Wandlung statt altdarwinistischer Anpassung, Morris, Simon Conway (2003): Life’s Solution / Inevitable Humans in a Lonely Universe, Cambridge University Press, New York und Melbourne, oder Kirschner, Marc. W.; Gerhart, John C. (2007): Die Lösung von Darwins Dilemma, Cambridge University Press, New York und Melbourne und mein Posting dazu!

[3] Gerhard Vollmer: Zufall. Essay, Online-Lexikon,  Download 28.1.2008

Kategorie: Allgemein, Emergenz, Erkenntnis, Evolution

2 Reaktionen zu “Antitheorie Darwinismus”

  1. Bertram Köhler

    Meines Erachtens ist die Frage: “Reduktionismus oder Emergentismus” falsch gestellt. Es ist die gleiche Frage wie die: “Sind die Elementarteilchen nun Wellen oder Korpuskel?”. Sie sind beides zugleich, auch wenn unser Verstand das nur schwer miteinander vereinbaren kann, weil wir nur entweder die eine oder die andere Projektion sehen können. Reduktionismus und Emergentismus sind beide falsch, das besagt schon der “ismus”.
    Freilich ist Laughlin ein Emergentist reinsten Wassers und das stört mich an ihm.
    Aber dessenungeachtet gibt es emergente Eigenschaften, und Laughlin benennt und beschreibt einige davon. Aber was Emergenz ist, kann er nicht beschreiben und wenn er bei seiner Argumentation an diesem Punkt angekommen ist, weicht er stets aus und erzÀhlt irgendwelche Geschichten aus seinem Leben. Emergenz kann man nicht reduktionistisch beschreiben. Wenn man es könnte, wÀre es keine Emergenz.
    Es wĂ€re auch sehr verwunderlich, wenn ein in der Evolution entstandenes Gehirn in der Lage wĂ€re, alle in der Welt existierenden Wechselwirkungen gleichzeitig zusammenzudenken, und das wĂ€re notwendig, wenn wir emergente Eigenschaften reduktionistisch erklĂ€ren wollten. Nach allgemeiner Auffassung können wir die komplexe Systeme mit mehr als 1oo Wechselwirkungen nicht mehr exakt begreifen und mĂŒssen weniger dimensionale Modelle konstruieren, um begreifen zu können. Eines dieser Modelle ist die Emergenz. Sie ist ein Hilfsmittel der Wissenschaft, wo der Reduktionismus versagt und sollte deshalb nicht weggeworfen werden, auch wenn fĂŒr manche zunĂ€chst fĂŒr emergent gehaltene Eigenschaften reduktionistische ErklĂ€rungen gefunden werden können. Unser Vorstellungsvermögen hat Grenzen. Wir können nicht wirklich verstehen, warum 1+1=1 ist, wenn wir zwei Lichtgeschwindigkeiten addieren. Und doch ist es so. An solchen Stellen bleibt nichts weiter ĂŒbrig, als eine neue Theorie zu erfinden, die die Tatsachen erklĂ€rt.

  2. Bertram Köhler

    Nach nochmaliger PrĂŒfung einiger Aussagen von Laughlin halte ich meine oben gemachte Bemerkung fĂŒr voreilig. Laughlin ist kein Emergentist. Er hĂ€lt genau wie ich Reduktionismus und Emergenztheorie fĂŒr zwei Seiten einer Medaille, die zusammengehören. Er plĂ€diert aber dafĂŒr, emergente Gesetze als solche zu erforschen, statt reduktionistisch erklĂ€ren zu wollen. Nur deshalb erklĂ€rt er Reduktionismus als ĂŒberholt.


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